SPD bei der Bundestagswahl: Wahlchance des Klassenlehrers
Der Abgesang auf die SPD ist voreilig. Die Partei könnte Gerechtigkeit und Solidarität mit einer hinreichend radikalen Klimapolitik versöhnen.
V or einigen Wochen ist Olaf Scholz nach Washington geflogen, in seiner Arbeitstasche eine kleine Revolution: ein Plan für die globale Besteuerung von Amazon, Google und Co. Auf den Bildern des Besuchs sah man dann zwar einen Mann, der aussah wie der Klassenlehrer der 5b. Aber Scholz ist tatsächlich mit einer historischen Einigung nach Hause gekommen. Die Finanzminister der G20 haben eine globale Mindeststeuer für international agierende Unternehmen beschlossen.
Eine der großen Bruchlinien der Globalisierung ist damit neu vermessen worden, die Flucht des Kapitals nicht mehr ganz so leicht möglich. Scholz, dessen Wahlkampf bisher kaum sichtbar ist, hat einen Coup gelandet. Er hat einen Gerechtigkeitssinn adressiert, der daran erinnert, wie Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert aussehen könnte: Die Stellung des Staates als Schutzpatron seiner Bürger.innen stärkend in einer unübersichtlichen, entgrenzten Welt.
Als die SPD mit Olaf Scholz einen eigenen Kanzlerkandidaten kürte, erfuhr sie eine Mischung aus mitleidigem Lächeln und Häme. Was will eine Partei, die in den Umfragen um 15 bis 17 Prozent dahindümpelt, mit einem eigenen Kandidaten fürs Kanzleramt? Eine Ampel-Koalition – die einzige Option, die der SPD zur Führung einer Regierung bliebe – ist derzeit nur dann Gegenstand öffentlicher Diskussionen, wenn Christian Lindner ihr die x-te Absage erteilt. Alle Augen richten sich auf schwarz-grün, auf die teils vermessenen, teils tapsigen Patzer von Annalena Baerbock sowie das tollpatschige Kichern Armin Laschets oder nun dessen eigene kleine Plagiatsaffäre.
Aber der rote Abgesang ist voreilig. Die SPD könnte noch gebraucht werden. Was passiert, wenn es angesichts der akuten Schwäche der anderen beiden Spitzenkandidaten für schwarz-grün am Ende gar nicht reicht? Wenn die Frage also doch lautet: Jamaika, Deutschland-Koalition oder Ampel?
Fokus des Wahlkampfs jetzt auf Klimapolitik
Die Flut hat den Fokus dieses Wahlkampfs ganz auf die Klimapolitik gerichtet, bei der Bundestagswahl stehen epochale Entscheidungen auf dem Spiel. FDP und Union, das lehrt ein Blick in die Wahlprogramme, würden in der Klimapolitik eher als Doppelbremse wirken. Eine Ampel wäre da allemal die bessere Option.
Nur, die SPD taugt nicht nur zur Mehrheitsbeschaffung. Denn wer Klima sagt, muss dies auch sozial vermittelbar denken. Die überragende Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird darin bestehen, radikale Entscheidungen zu treffen, diese aber mit einer Milde und Geduld zu vermitteln, die möglichst wenige Menschen zurücklässt. Dafür kommen weder die Grünen noch die Liberalen in Frage, deren Klientel sich jeweils auf der Gewinnerseite der Globalisierung versammeln. Und der rheinische Herz-Jesu-Katholik Armin Laschet zeigt derzeit erstaunliche Schwächen darin, die Herzen der Menschen zu erreichen.
Die SPD könnte die Partei sein, die ein zeitgemäßes Verständnis von Gerechtigkeit und Solidarität mit einer hinreichend radikalen Klimapolitik versöhnt – und damit eine Diskussion der vergangenen Jahre öffnet, die blockiert schien von den Gegensätzen zwischen Stadt und Land, weiß und divers, woke und abgehängt, analoger und digitaler Ökonomie.
Sigmar Gabriel und Martin Schulz haben viele Jahre lang nach einer Formel gesucht, wie eine moderne Sozialdemokratie aussehen kann, die gleichzeitig die Verlierer und die Gewinner der Globalisierung adressiert. Sie haben sie nicht gefunden. Nach der Bundestagswahl 2017 war die SPD ein Fall für die Palliativmedizin. Das attestierte selbst eine von der Partei engagierte Gruppe externer Expert.innen. „Aus Fehlern Lernen“ war die Analyse überschrieben. Aus zentralen Kritikpunkten hat die Partei nun Konsequenzen gezogen.
Aus Fehlern gelernt
Den Fehler, die Kandidatenfrage zu lange offen zu lassen, hat die SPD nicht noch einmal begangen. Scholz ist unangefochten, selbst aus dem Willy-Brandt-Haus und der Fraktion feuern keine Heckenschützen auf ihn. Wer bei Andrea Nahles oder Martin Schulz nachfragt, weiß, wie SPD-untypisch dies ist.
Eine attestierte „tiefe Entfremdung zwischen sozialdemokratischer Basis und ihrer Führung“ ist durch die Urwahl des Vorsitzenden-Duos aus der eher linken Basis tendenziell überbrückt. Und das Trio aus Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Olaf Scholz hat die Flügelkämpfe beruhigt. Zumindest bis auf Weiteres.
Damit sind die Grundlagen für einen halbwegs stimmigen Wahlkampf geschaffen. Der Rest ist eine Frage des Inhalts. Als Martin Schulz 2017 vor allem über Gerechtigkeit und Respekt sprach, schossen die Umfragewerte „in kaum für möglich gehaltene Höhen“. Aber Schulz wandte sich im Wahlkampf anschließend anderen Themen zu, mit dem bekannten Ergebnis.
Wenn Olaf Scholz in diesen Tagen spricht, muss man auf den Begriff Respekt nicht lange warten. „Aus Respekt vor deiner Zukunft“ steht über dem Wahlprogramm der SPD. „SPD“ hat die Wahlkampagne mit „Soziale Politik für Dich“ übersetzt. Jenseits der Floskelhaftigkeit lohnt ein Blick darauf, was sich dahinter verbirgt.
An allererster Stelle steht im Programm das Kapitel zu Klimaneutralität. Es ist ein Signal. Ja, die SPD ist noch immer für den Mindestlohn. Scholz und Co haben sich aber entschieden, eine neue sozialdemokratische Mischung anzurühren: sie wollen Klimapolitik sozialverträglich gestalten und den Staat gegen die transnationalen Multis stärken. Die globale Mindeststeuer ist dafür nur ein Beispiel.
Von den Schwächen der anderen profitieren
Soziale Abfederung der Risiken in einer globalisierten, klimagebeutelten Gesellschaft werden eine zentrale Bedeutung bei der Wahlentscheidung haben. Wenn es der SPD gelingt, jene vom Soziologen Heinz Bude als „erwachsene Wähler.innen“ bezeichnete große Gruppe anzusprechen, die sowohl Solidarität als auch Klimapolitik einfordert und für die es gerade kein wirklich mutiges Politikangebot gibt – dann hat die Partei eine Chance, die womöglich entscheidenden zwei, drei Prozentpunkte mehr zu erreichen.
Sie kann dabei von den unerwarteten Schwächen der anderen profitieren. Von den Grünen, deren Spitzenkandidatin derzeit im Wochenrhythmus dokumentiert, dass die ihr vorgeworfene politische Unerfahrenheit tatsächlich existiert. Und in der Union lacht Laschet nicht nur zum falschen Zeitpunkt, er schweigt auch an der falschen Stelle: da nämlich, wo es eine klare Aussage zur Klimapolitik bräuchte.
Er ist derzeit ein Paradebeispiel, wie die Angst vor dem gesellschaftlichen Wandel notwendige Reformen blockiert. Das reicht für 25 Prozent der Bevölkerung, aber nicht für sehr viel mehr. Laschets Versuch, niemanden zu verschrecken, verschreckt zumindest die von Bude beschriebenen „erwachsenen Wähler.innen“.
Der Wahlkampf ist noch lang, in den USA wartet die Nation alle vier Jahre auf eine „October surprise“, eine Überraschung kurz vor dem Wahltag. Aber wenn die Flutkatastrophe diese Überraschung schon war, wenn Olaf Scholz seiner gefundenen Linie treu bleibt, eine entschiedene Klimapolitik mit einer modernen Rolle des Staates als Kümmerer zu versöhnen – dann findet vielleicht auch ein Klassenlehrer aus der 5b noch seine Rolle.
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