Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Deutschland: „Wir haben es mit Tabus zu tun“

Palästinensische Stimmen fehlen im deutschen Diskurs, sagt die Wissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi. Das komme systematischer Gewalt gegen sie gleich.

Männer halten Palästinensertücher aus den Fenstern während unten eine Demonstrationen mit Palästinenserfahnen auf der Straße vorbeiläuft

Immer mehr Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen beteiligen sich an Demonstrationen, wie hier im Oktober in Berlin-Kreuzberg. Sie wollen Sichtbarkeit und Anerkennung Foto: Pierre Adenis

taz: Die Familie Ihres Vaters lebt in Gaza. Wie geht es Ihnen gerade?

Sarah El Bulbeisi: Es geht okay. Meine Strategie ist, ein bisschen zu verdrängen, was passiert, weil es sonst einfach nicht auszuhalten ist. Ich habe ab und zu Kontakt mit meiner Familie und bekomme in Telefongesprächen die Angst und Verzweiflung mit. Das ist nur ein Warten auf den Tod. Meine Tante meinte, sie hoffe, dass sie bald erlöst werde. Ich habe stundenlang gebraucht, um ihr zurückzuschreiben. Ich wusste nicht, was ich antworten kann.

Wie haben Sie geantwortet?

Dass ich bei ihr bin, dass sie nicht alleine ist.

arbeitet als Kulturwissenschaftlerin in Beirut. Ab 2011 lebte sie in Deutschland. Sie promovierte am Nahostinstitut der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Ihre Dissertation erschien 2020 beim Transcript-Verlag: „Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960–2015“.

Wie geht es anderen Menschen in der deutsch-palästinensischen Community?

Sie sind schockiert und wütend. Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen fühlen sich entmenschlicht, weil der ganze politische und mediale Diskurs sie als Menschen unsichtbar macht. Immer wieder wird das Bild eines symmetrischen Konflikts gezeichnet und die ganze systematische Gewalterfahrung der PalästinenserInnen ausgeblendet. Das macht etwas mit der Diaspora: Man zeigt weniger Kulanz mit der Mehrheitsbevölkerung und ist weniger bemüht, deren Wegschauen zu entschuldigen. Die Entfremdung wird immer stärker.

Was meinen Sie mit Entmenschlichung?

Dass Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nicht als Betroffene von systematischer Gewalt und als betrauernswert wahrgenommen werden. Das geschieht nicht auf physischer Ebene, wie wir es jetzt in den besetzten Gebieten sehen, sondern auf der diskursiven Ebene.

Können Sie dafür Beispiele geben?

Abgesehen von der Berichterstattung gibt es darüber hinaus Versammlungsverbote. 2022 und 2023 hat die Berliner Polizei beispielsweise anlässlich der Gedenkzeremonien an die Nakba Versammlungsverbote angeordnet. Man durfte des kollektiven Traumas, das ja auch Teil der Identität ist, nicht gedenken. Legitimiert wurde dies mit der Antizipation von Gewaltakten. Also für mich ist das eine Form von Entmenschlichung, dass man Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nicht den Raum zugesteht, einen Teil ihrer Geschichte kollektiv zu betrauern. Sobald Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in irgendeiner Form sichtbar werden, werden sie zu staatsfeindlichen Subjekten, die angeblich die öffentliche Ordnung bedrohen, oder gar zu antisemitischen Subjekten gemacht.

Meinen Sie, dass Opfer und Täter klar feststehen?

Israel wird mit dem Judentum gleichgesetzt und Israel-kritische Positionen und palästinensische Stimmen werden mit Antisemitismus gleichsetzt. Palästinensische Gewalterfahrung wird nicht nur systematisch unsichtbar gemacht, sie wird durch die Opfer-Täter-Dichotomie immer wieder legitimiert – durch Medien und den Staat.

Was müsste sich ändern, um den Erfahrungen von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen mehr Raum zu geben?

Der Diskurs über die Gewalt an Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen müsste verändert werden. Begriffe wie Apartheid oder eth­nische Säuberung sollten kein Tabu sein.

Diese Begriffe werden in Bezug auf Israel als antisemitisch gesehen.

Diese Wörter werden immer dargestellt, als relativierten sie die Schoa. Sie werden als Konkurrenz empfunden. Dadurch wird eine Anerkennung systematischer Gewalterfahrungen anderer Völker unmöglich gemacht. Auch der koloniale Rassismus und der strukturelle Rassismus Deutschlands und Europas werden ausgeblendet.

Die große Angst ist, dass die Schoa und die historische Schuld Deutschlands in Vergessenheit geraten.

Habe ich gesagt, man soll das vergessen? Die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen begreifen die Nakba als Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die bis heute andauert. Wenn man das anerkennt, wird das gleich als Angriff auf die Katastrophalität der Schoa gesehen. Da muss die deutsche Gesellschaft ihre Arbeit machen: dass man über die Nakba sprechen kann, ohne dass das gleich als Antisemitismus gilt.

Was macht die diskursive Gewalt mit den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Deutschland?

Die Nichtanerkennung ihrer Vertreibungserfahrungen hat die erste Migrationsgeneration zutiefst marginalisiert. Ich habe mit Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen verschiedener Migrationszeiten gesprochen: jenen, die im Zuge der Studien- und Arbeitsmigration in den 60er Jahren nach Deutschland kamen, und denjenigen, die im Kontext des libanesischen Kriegs aus den Flüchtlingslagern in den 80er Jahren nach Deutschland geflohen sind.

Die Palästinenser*innen, die in den 1960er Jahren kamen, haben 1947/48 als Kinder die Massenvertreibungen von 800.000 bis 900.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen selbst erlebt. Die Nakba wurde lange im palästinensischen kollektiven Gedächtnis tabuisiert – weil man sich mit diesem hegemonialen Narrativ identifiziert hat, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen freiwillig gegangen seien, dass die Nakba nur ein Nebeneffekt des Krieges gewesen sei.

Für viele war die eigene Vertreibung und/oder die Vertreibung der Eltern daher mit Scham besetzt. Ausgerechnet diese Generation durfte im Zuge der Besetzung des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems durch Israel 1967 nicht mehr zurückkehren. Weil Israel am Anfang der Besatzung alle, die nicht zu Hause waren, als abwesend ins Zivilregister eingetragen hat. Das war eine indirekte Vertreibung. Sie waren gezwungen, in Deutschland zu bleiben, ohne dass ihre multiplen Vertreibungserfahrungen von der Gesellschaft, in der sie lebten, gesehen wurden. Daraus folgten Melancholie und Isolation. Sie haben sich aus der Gesellschaft und aus der Familie zurückgezogen und verneinen sich oft selbst.

Bei den Palästinenser*innen, die aufgrund der Vertreibungen von 1947/48 meist in den libanesischen Flüchtlingslagern geboren und aufgewachsen und in den 80er Jahren aus dem Libanon geflohen sind, kam eine sozioökonomische Marginalisierung hinzu. Deutschland hat sie nicht als Geflüchtete anerkannt, und der Libanon nahm sie nicht zurück, aufgrund ihrer offiziellen Staatenlosigkeit. Dies endete in jahrelangen Kettenduldungen.

Und wie hat sich das auf die zweite Migrationsgeneration ausgewirkt?

Um dem Schmerz zu entgehen, kriminalisiert, statt gesehen zu werden, haben viele ihren Kindern gesagt: Sagt nicht, woher ihr kommt. Sie haben quasi ein Doppelleben geführt, bei dem sie nur privat das Palästinensischsein für sich bewahrt haban.

Es gibt 200.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Deutschland. Wo sind ihre Stimmen im derzeitigen Diskurs?

Es wird schon lauter, es sind ganz viele auf den Demos. Unsere Elterngeneration wollte noch Anerkennung von der Mehrheitsgesellschaft. Jetzt lässt man sich die Gewalterfahrung nicht mehr absprechen.

Fühlen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen einen starken Druck, die Öffentlichkeit auf das Leid ihres Volkes aufmerksam zu machen?

Ich spreche jetzt von mir: Das ist so eine Art von Überlebensschuld oder Bringschuld, weil man nicht in Gaza ist. Meine Tante und Familie dort machen keinen Druck. Alleine, wenn sie mit mir sprechen und ich ihre Angst spüre, bringt mich das in eine Schuld. Der Kampf um Leben und Tod in Gaza, der war auch mit den Militäroffensiven 2014 oder 2021 existent, das kann ich nicht ausblenden. Dieses bedrückende Gefühl war die letzten Jahre immer da.

Gibt es Angst, sich öffentlich zu äußern?

Ja, wir haben es mit Tabus zu tun: Siedlerkolonialismus, Vertreibung, ethnische Säuberung, Apartheid. Wenn man über die eigene Erfahrung sprechen möchte, braucht man aber Wörter, mit denen man sich identifiziert. Man weiß, welche Begriffe außerhalb der Norm anzusiedeln sind, und hat das internalisiert. Um im sagbaren Raum zu sein, müsste man das vorherrschende Konfliktnarrativ reproduzieren und sich selbst die Erfahrung absprechen. Man hat nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft einem mit Wohlwollen gegenübersteht und es wirklich darum geht zu verstehen.

Sie sagen, die Deutschen wollen korrekt sein im Diskurs. Warum wird das von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen als grausam erfahren?

Für mich ist diese Korrektheit eher Feigheit. Es ist eine Weigerung, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, der eigenen Befindlichkeit zuliebe. Aber dafür bezahlen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen den Preis. Wenn der Diskurs sich nicht ändert, wird die systematische Gewalt gegen sie weitergehen.

Also wenn es einen weniger schuld- und schambesetzten Diskurs seitens der Deutschen gäbe, hieße das nicht, dass Gewalterfahrungen abgesprochen würden. Sondern, dass eine Debatte auf Augenhöhe geschaffen werden könnte?

Wenn die Nakba und die Gewalterfahrungen der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen anerkannt werden und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen auch Betroffene sein können – ohne, dass das gleich bedeutet, das Leid der Jü­d*in­nen zu relativieren, ja! Niemanden meiner palästinensischen Bekannten würde ich als antisemitisch bezeichnen. Antisemitismus ist strukturell. Den findet man auch bei Deutschen, die explizit mit Israel solidarisch sind. Gewalterfahrungen existieren nebeneinander und ein Sprechen darüber muss möglich sein. Wenn man von Schuld spricht, müsste man auch sagen: Unser Nationalsozialismus hat zur Schoa und auch zur Nakba geführt.

Also nicht „Free Palestine From German Guilt“, sondern eine Erweiterung der deutschen Schuld auch auf die Nakba und eine Verpflichtung, sie ins kollektive Gedächtnis aufzunehmen?

Ich glaube, der Spruch ist polemisch gemeint. Aber genau. Verantwortung wäre vielleicht das bessere Wort. Eine erneuerte Form, Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen. Sonst macht man sich zum Opfer der Schuld.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.