Offene Grenzen: Mission impossible?
Die Abschaffung von Sklaverei und Apartheid hatte niemand für möglich gehalten, passiert ist es trotzdem. Warum nicht auch auf offene Grenzen hoffen?
Ü ber die Abschaffung von Grenzen nachzudenken, ist gerade nicht opportun. Die Wende der Migrationspolitik soll Grenzen „sichern“. Grenzen abschaffen? Hilfe, nein, dann überrennen uns doch die Massen, und die extreme Rechte wird noch stärker, Chaos überall – so denken vermutlich viele. Aber haben wir das nicht längst? Dagegen werden die immer gleichen Mittel gefordert: Einschränkung des Asylrechts, Abschiebungen in großem Stil, Sicherung der EU-Außengrenzen. Die Rezepte haben bislang nicht funktioniert, und es ist fraglich, ob sie das in Zukunft tun werden.
Bedeutete die Abschaffung der Grenzen nicht die Abschaffung des Rechts? Ja, es hieße, zu bestimmen, wer in einem Land leben darf und wer nicht. Einreisen ohne erforderliche Papiere sind „illegal“, Menschen ohne Aufenthaltsrecht müssen abgeschoben werden – so verlangt es das Recht. Man tut so, als sei Aufenthaltsrecht etwas Naturgegebenes und unterschlägt, dass dieses Recht gemacht wurde, damit Menschen abgeschoben werden können. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz: Menschen müssen abgeschoben werden, weil sie abgeschoben werden müssen. Ende der Diskussion.
Diese scheinbare Selbstverständlichkeit des Rechts müssen wir hinterfragen. Das Grundgesetz sagt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Aber das stimmt nicht: Die Gleichheit vor dem Gesetz gilt nicht für alle Menschen, sondern nur für die, die ein volles Aufenthaltsrecht haben und letztlich nur für Staatsbürger*innen. Die Rechte jener, die nur geduldet werden, werden eingeschränkt: Grundrechte, Recht auf Arbeit, Recht auf Freizügigkeit. Das Aufenthaltsrecht steht über dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Wie Hannah Arendt schrieb: Das Recht, Rechte zu haben, gilt nicht für Flüchtlinge.
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Recht schränkt Rechte ein, es kann ungerecht sein. Und Recht ist, obwohl es als so „normal“ erscheint, nicht naturgegeben, es kann und muss immer wieder geändert werden. Auch das Aufenthaltsrecht. Das Recht diente oft dazu, Menschen ihre Rechte vorzuenthalten. Die Apartheid in Südafrika war ein Rechtssystem. Auch Sklaverei war lange rechtmäßig. Apartheid und Sklaverei sollen hier nicht mit dem gegenwärtigen Grenzrecht gleichgesetzt werden, sondern auf eine grundlegende Gemeinsamkeit hinweisen: Alle diese Rechtssysteme dien(t)en dazu, Menschen auszugrenzen und ihre Rechten zu beschneiden – ganz rechtskonform. Sie trennten Privilegierte von rechtlosen Anderen. Und alle üb(t)en massive, oft tödliche Gewalt aus.
Sklaverei und Apartheid wurden irgendwann als Unrecht erkannt und abgeschafft. Das Unmögliche wurde gedacht, am Ende hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass beide Systeme zutiefst menschenverachtend waren. Es ist also möglich, (Un-)Recht abzuschaffen. Das ist nicht einfach und hat lange gedauert. Stellen wir uns vor, zur Zeit der Sklaverei hätte es Talkshows gegeben. Bei einer solchen Talkshow wäre über Sklaverei diskutiert worden, dazu wären ein Plantagenbesitzer, ein Sklavenhändler, ein hoher Beamter einer Kolonialverwaltung sowie der Besitzer eines Handelshauses eingeladen gewesen. Und, als Exot, ein Abolitionist, der die Sklaverei abschaffen wollte. Der Abolitionist wurde von den anderen ausgelacht. Total verrückt, die Sklaverei abschaffen? Wie soll das denn gehen? Die Sklaven gehören den Plantagenbesitzern, sie sind ihr Eigentum! Das Recht schützt das Eigentum! Sklaven sind gar nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Würde man sie freilassen, wären Chaos und Kriminalität die Folge. Wer sonst soll die Arbeit auf den Plantagen machen? Ohne Sklaverei schießt der Zuckerpreis durch die Decke, die Folge wären Inflation und Rohstoffmangel! Eine globale Wirtschaftskrise würde drohen, da sind sich alle bis auf den Abolitionisten einig. Und wieso überhaupt über die Abschaffung der Sklaverei reden? Es gab sie immer schon, so sind das Recht und die Ordnung der Welt.
Sklaverei war mit dem europäischen Kolonialismus verknüpft. Es gab Sklaverei auch schon früher, aber durch den Kolonialismus erhielt sie eine neue systematische und ökonomische Dimension. Ohne die systematische und gewaltsame Ausbeutung der kolonisierten Menschen wäre der Aufstieg der europäischen Kolonialmächte nicht möglich gewesen. Hin und wieder gab es Zweifel, ob die massive Entrechtung der Sklaven richtig war. Es gab Reformen. Der französische König Ludwig XIV. erließ den Code Noir, der die Sklaverei regulierte und den Sklav*innen einen gewissen Schutz zubilligte. So durften Sklav*innen zwar in Ketten gelegt, aber nicht gefoltert werden. Sklavenbesitzer, die Sklav*innen töteten, wurden bestraft. Sie mussten sich um kranke Sklav*innen kümmern. Vor allem aber schrieb der Code Noir die Sklaverei fest und bestimmte zum Beispiel, dass die Kinder von Sklav*innen auch Sklav*innen waren. Beim Tod eines Sklavenhalters wurden seine Sklav*innen vererbt, wie anderes Eigentum auch.
Während aus heutiger Perspektive solches „Recht“ verbrecherisch ist, schien damals völlig undenkbar, dass es jemals abgeschafft werden würde. Dennoch schrieben französische Aufklärer gegen die Sklaverei an. Mit der Französischen Revolution schienen sich die Aussichten auf Abschaffung der Sklaverei zu bessern. 1792 wurde eine Kommission mit 6.000 Soldaten in die Karibik geschickt, um den Aufstand der Sklav*innen niederzuschlagen, aus dem Haiti als unabhängiger Staat hervorging. Statt jedoch den Aufstand zu bekämpfen, erklärten die Kommissionäre 1793 dort alle Sklav*innen für frei.
In England entstand die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 1807 wurde der Sklavenhandel in den Kolonien verboten, die Sklaverei selbst erst 1833 abgeschafft. Dennoch blieben die ehemaligen Sklav*innen von ihren ehemaligen Besitzern abhängig, ihre vollständige Befreiung kam erst 1843. 1833 wurden die Sklavenhalter für ihren „Verlust“ entschädigt. Für die ehemaligen Sklav*innen gab es keine Entschädigung. In den USA wurde die Sklaverei 1865 abgeschafft. Das letzte Land, in dem die Sklaverei verboten wurde, war Brasilien im Jahr 1888.
Abschaffung der Sklaverei dauerte lange
Bemühungen um die Abschaffung der Sklaverei dauerten weit über hundert Jahre. Sie gingen von einigen wenigen Menschen aus und es gab immer wieder Rückschläge. Mit dem Ende der Sklaverei waren keineswegs alle Menschen gleich und frei. Die ausbeuterischen Verhältnisse änderten sich zunächst kaum. In der Karibik wurden Sklaven durch Vertragsarbeiter aus Südasien ersetzt, deren Lebensbedingungen kaum besser waren. Sklavenähnliche Ausbeutungsverhältnisse gibt es vielerorts auch heute noch, und auch der Rassismus, der die Sklaverei legitimierte, ist nicht am Ende. Bemühungen um die Abschaffung der Sklaverei und ihrer Folgen müssen auch heute fortgesetzt werden. Es braucht also einen sehr langen Atem.
Dennoch: Nehmen wir die langwierige Abschaffung des Rechts auf Sklaverei mit allen Rückschlägen als eine Parabel für die Abschaffung des Grenzrechts. Es gab nicht nur ethische Gründe gegen Sklaverei. Adam Smith, der schottische Vordenker des Liberalismus, brachte ökonomische Argumente vor. Er hielt die Arbeit freier Menschen für effizienter als Sklavenarbeit. Sklavenarbeit ist am Ende die teuerste Arbeit, schrieb er 1776. Heute könnte man mit den ungeheuren Kosten des Grenzschutzes argumentieren und fragen, ob diese vielen Milliarden Euro nicht sinnvoller eingesetzt werden könnten. Heute würde Adam Smith vermutlich schreiben, dass es ökonomisch sinnvoller wäre, angesichts des Arbeitskräftemangels Flüchtlinge arbeiten zu lassen, anstatt sie oft zu jahrelanger Untätigkeit zu verdammen. Smith wäre wohl verblüfft angesichts der Absurdität, dass Minister*innen durch die Welt jetten, um weit entfernt Pflegekräfte abzuwerben, während Migrant*innen ohne Aufenthaltsrecht, die in Deutschland eine entsprechende Ausbildung machen, abgeschoben werden.
Diese Absurditäten sind heute völlig normal, weil Grenzen so normal sind. Wir müssen versuchen, das Unmögliche zu denken. Vielleicht fragt man sich in hundert Jahren, wie man es einmal für rechtmäßig halten konnte, Grenzen zu „schützen“ und dabei Menschen massenhaft sterben zu lassen. Adam Smith hielt übrigens die Abschaffung der Sklaverei für ziemlich unwahrscheinlich. Die Geschichte hat seine Skepsis widerlegt.
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