Özdemir-Rede zu Deniz Yücel: Eine Lektion im Deutschsein
Die AfD hat versucht, den Bundestag über Nationalismus diskutieren zu lassen. Der Grüne Cem Özdemir schlug sie dabei auf ihrem eigenen Gebiet.
Eigentlich war die Partie bereits verloren, bevor sie begonnen hatte. Die AfD-Fraktion im Bundestag hatte einen Antrag eingebracht. Das Parlament sollte von der Bundesregierung verlangen, zwei Texte des gerade aus türkischer Haft freigekommenen Journalisten Deniz Yücel zu „missbilligen“ – zwei alte Kolumnen aus der taz, in denen Yücel unter anderem das Aussterben des deutschen Volkes begrüßt. In einer Polemik. Muss man wohl dazusagen.
Es wäre beinahe gleichgültig, was in der Bundestagsdebatte am Donnerstagabend dazu gesagt worden ist: Dass eine rechtspopulistische Partei den Deutschen Bundestag mit parlamentarischen Mitteln dazu zwingen kann, über Zeitungstexte zu urteilen, ist ein Erfolg für die AfD.
Und doch hat das „Hohe Haus“ es geschafft, das Spiel in letzter Minute herumzureißen. Entscheidend dabei ist aber nicht, dass der Antrag mit 552 zu 77 Stimmen abgeschmettert wurde. Entscheidend war die Rede des Grünen-Abgeordneten Cem Özdemir, der sich auf das Terrain der rechtspopulistischen Partei wagte und eine Antwort auf die Frage anbot, die eigentlich die Rechten gerne stellen: Was ist Deutschsein?
Denn in der Debatte am Donnerstagabend ging es nie wirklich um Pressefreiheit oder Zensur, sondern es war Folge dreitausendsiebenhundertundvier einer laufenden Identitätsdebatte zwischen links, Mitte und rechts. Es ging der AfD darum, ihren Nationalismus im Parlament auszubreiten. Auf ein medial präsentes Thema aufzuspringen und dieses in ihrem Sinne zu drehen: Deutschland-Hass von einem Deutschtürken versus völkisch-romantische Vaterlandsliebe. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hatte so auch gleich nach Yücels Freilassung vor einer Woche die Chance ergriffen zu behaupten, Yücel sei „kein Deutscher“. Um damit wieder ein AfD-Thema zu platzieren: die doppelte Staatsbürgerschaft.
Cem Özdemir hat vor allem gewettert
Eine Situation, in der man als Abgeordnete oder Abgeordneter in der Klemme sitzt: Ignorieren kann man den Antrag einer Fraktion nicht, der Bundestag muss qua Geschäftsordnung solche Anträge auf die Tagesordnung setzen und beraten.
Man hätte sich nun entscheiden können, vor allem das fragwürdige Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit der AfD-Abgeordneten herauszustreichen. Die meisten RednerInnen taten auch genau das, der Grüne Özdemir hingegen probierte etwas Anderes: Er ließ sich auf das Thema „Deutschsein“ ein.
Empfohlener externer Inhalt
Man muss voranstellen, dass das kein sachlich-theoretischer Vortrag war. Özdemir hat gewettert. Er hat der AfD autoritäre Fantasien unterstellt, sie allesamt Rassisten genannt, sie als Handlanger Erdogans und Russlands dargestellt, und viel, viel geschrien.
Aber Özdemir hat noch etwas anderes getan. Er hat einen Gegenentwurf zur nationalistischen Vorstellung von „Deutschsein“ beworben. „Wie kann jemand, der unsere gemeinsame Heimat so verachtet wie Sie, bestimmen, wer Deutscher ist?“, sagte Özdemir, an die AfD-Abgeordneten gerichtet.
Da ist es. Heimat. Dieser Begriff, der seit einiger Zeit im Raum steht und von dem alle wissen, woher er kommt. Von dem klar ist, dass er ein rechtspopulistisches Diskursangebot ist, bei dem nicht alle zugreifen mögen. Weil er völkisch besetzt und unheilbar verkitscht ist. Den man aber nicht wieder loswird.
Ein gewöhnungsbedürftiges Gefühl
Cem Özdemir hat den Begriff am Donnerstagabend mit republikanischen Ideen aufgeladen. „Sie verachten dieses Land für alles, für das es respektiert wird“, so Özdemir an die AfD. Und listet auf: Erinnerungskultur, Vielfalt – und „die Nationalmannschaft“. Und schließlich endet der türkischdeutsche Abgeordnete seinen Beitrag mit seiner eigenen „Heimat“: Bad Urach, in Schwaben, ganz am Ende der Stuttgarter S-Bahn.
Und so sprach Özdemir auch nie von dem „Stolz, Deutscher zu sein“, sondern von dem „Stolz, Bürger dieses Landes zu sein“. Ein Bürger, eine Bürgerin zu sein, das ist kein Blut- und auch kein Bodenrecht – es ist die republikanische Idee von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, weil man sich mit ihren Regeln identifiziert. Etwas, das die AfD-Abgeordneten laut Özdemir nicht tun.
Kann das funktionieren? Heimat, Deutschsein, diese Begriffe nicht zu ignorieren, sondern sie rhetorisch so zu wenden, dass sie antirassistisch werden – und sie so den Rechten zu entziehen? Eins ist klar: Die Özdemir-Rede war mitreißend, manch ein Linker wird, so wie der Autor dieses Textes, für eine Millisekunde stolz gewesen sein, Bürger dieses Landes zu sein. Zugegeben, das Gefühl ist gewöhnungsbedürftig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“