Krieg in der Ukraine: Die Ukraine muss sich auf Gebietsverluste einstellen
Selenskyj sollte das Verhandlungsverbot aufheben und sehr bald Gespräche mit Moskau führen. Je länger er wartet, desto härter werden die russischen Forderungen.

W as macht ein Pilot, wenn er merkt, dass er nicht mehr ausreichend Kerosin hat? Er ändert den Kurs. Dies gilt auch für den Ukrainekrieg. Ein Weiter-so gibt es für Kyjiw nicht mehr.
Die USA unter Donald Trump fallen als Bündnispartner aus, die russische Armee rückt an der Front vor, die Situation im Hinterland ist, insbesondere abseits der Metropolen, verheerend. „In unserem Dorf gibt es keine Männer zwischen 25 und 50 mehr“, sagte mir kürzlich eine Ukrainerin. Eine andere Frau, die aus einer Stadt von der Größe meiner Heimatstadt Mönchengladbach kommt, berichtete mir, dass im Durchschnitt täglich ein Mann im Sarg von der Front zurückkomme.
Das internationale Recht steht in diesem Krieg auf der Seite der Ukraine, die Anspruch auf ihre international anerkannten Grenzen hat. Es wäre somit logisch, dass die Ukraine so lange kämpft, bis die Eindringlinge vertrieben sind. Doch der Versuch, die Grenzen von 1991 militärisch zurückzuerobern, hätte einen hohen Preis.
Sehr viele Menschen würden dabei sterben, die Mobilisierung der Armee müsste forciert werden, möglicherweise würden auch Frauen eingezogen. Und die westlichen Partner müssten ihre Militärhilfe erheblich aufstocken. Wer diese Eskalation möchte, soll bitte auch sagen, welchen Preis er oder sie zu bezahlen bereit ist: Sind es Tausende Tote, Zehntausende oder Hunderttausende?

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Verpasste Chancen
Noch nie ist so viel verhandelt worden wie in diesem Jahr. Und noch nie ist in diesem Jahr so viel auf diplomatischer Ebene für ein Ende dieses Kriegs passiert wie im Monat April. Es sind nicht die ersten Verhandlungen zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Doch eine Tendenz ist erkennbar: Je später die Verhandlungen, umso härter werden die russischen Forderungen.
Bei den Verhandlungen in Minsk hatte die Ukraine noch die Chance, die Gebiete Luhansk, Donezk, Charkiw und Cherson zu behalten. Doch beide Seiten waren nicht gewillt, den politischen Teil der Minsk-Vereinbarungen umzusetzen.
Auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte es 2022 direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine gegeben. David Arachamia, Verhandlungsführer der ukrainischen Seite in Istanbul 2022, sah auf russischer Seite damals durchaus eine Bereitschaft, den Krieg zu beenden.
„Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – neutral würden und uns verpflichten würden, dass wir der Nato nicht beitreten“, zitiert ihn die Ukrajinska Prawda. Doch eine Reihe von Gründen führte dazu, dass die Gespräche scheiterten. Darunter: mangelndes Vertrauen der ukrainischen Seite nach dem Massaker von Butscha. Dort ermordete die russische Armee fast 500 Ukrainer.
Eine Anerkennung darf es nicht geben
Mittlerweile verlangt Russland vier Gebiete, zumindest die Teile dieser vier Gebiete, die es aktuell kontrolliert. Gut möglich, dass Russland in einigen Monaten sechs oder gar acht Gebiete verlangt. Soll die Ukraine die von Russland annektierten Gebiete als zu Russland gehörend anerkennen?
Nein, eine Anerkennung dieser von Russland vorgenommenen Grenzveränderung darf es nicht geben. Diese Gebiete wurden völkerrechtswidrig annektiert, eine De-jure-Anerkennung würde das Unrecht zementieren. Aber die Ukraine könnte zu erkennen geben, dass sie mit einer De-facto-Anerkennung der Front als Trennlinie einverstanden ist, und zugleich erklären, dass sie keine Versuche unternehmen wird, die Gebiete zurückzuerobern.
Vielleicht kann hier der Kalte Krieg als Vorbild dienen. Die westlichen Staaten hatten Ostberlin nie als Hauptstadt der DDR anerkannt. Völkerrechtlich war der sowjetische Sektor Berlins Teil der Viersektorenstadt unter Hoheit der vier Siegermächte. Damit war der östliche Teil Berlins kein konstitutiver Teil der DDR. Man arbeitete mit Ostberlin zusammen, betonte gleichzeitig stets, dass man Ostberlin nicht als Hauptstadt der DDR anerkenne.
Die Ukraine retten
Befragt, wie er als Präsident mit dem Krieg im Donbass umgehen würde, antwortete Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj Ende 2018, dass er es ablehne „mit der Armee dort hinzugehen“. Er stehe für Verhandlungen. „Ich bin sogar bereit, mit einem glatzköpfigen Teufel zu verhandeln, Hauptsache, es stirbt niemand.“
Doch das war 2018. Anfang Oktober 2022 unterschrieb derselbe Selenskyj einen Erlass, in dem „die Unmöglichkeit, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation W. Putin Verhandlungen zu führen“, erklärt wurde. Doch heute schreiben wir 2025, das Jahr, in dem so viel verhandelt wurde wie nie zuvor. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der Selenskyj des Jahres 2025 an den Selenskyj von 2018 erinnert, sein Verhandlungsverbot aufhebt und Gespräche zur Rettung der Ukraine führt.
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