Kommentar zum Asylstreit in der Union: Die wehrlose Kanzlerin
Jemanden wie Seehofer hätte Merkel früher einfach entlassen – tut sie aber nicht. Man kann zusehen, wie aus ihr die Kraft abfließt.
A ngela Merkel darf man in der Union jetzt schlagen, ohne dass einem etwas passiert. Jedenfalls wenn man Horst Seehofer heißt und – wie er vielsagend betont – nicht nur Innenminister ist, sondern auch CSU-Chef: Seehofer will Flüchtlinge, die schon in einem anderen EU-Staat registriert sind, an Deutschlands Grenzen abweisen. Seehofer kündigt eine Nebenaußenpolitik mit den rechten Innenministern in Wien und Rom an. Seehofer sagt seine Teilnahme an Merkels Integrationsgipfel im Kanzleramt ab.
Einen Minister, der so agiert, wäre die Regierungschefin früher schneller losgeworden, als man das Wort alternativlos buchstabieren kann. Tut sie aber nicht. Sie ist: wehrlos. Man kann zusehen, wie aus Merkel die Kraft abfließt, und einem fällt nicht ein, wie ihr neue Kraft zufließen könnte.
Derweil lanciert der putschlustige Jens Spahn Dramasitzungen von CDU und CSU auf ihre Kosten. Je wackliger die Koalition, das scheint sein Kalkül, desto schneller ist Merkel weg, desto schneller kommt er vorwärts in seiner Karriere.
Durch die Sitzung der CDU-Abgeordneten am Donnerstag ist sie noch so durchgerumpelt – weil die Mehrheit der CDU sich von den Bayern ihre Kanzlerin nicht wegschießen lassen mag. Jedenfalls ist Merkels Versprechen zweifelhaft, bis zum EU-Gipfel in Brüssel in zwei Wochen etwas zu erreichen.
Erstens hat sich die EU in keinem Politikfeld dermaßen entsolidarisiert wie in Migrationsfragen. Zweitens sehen Europas Staats- und Regierungschefs genau, dass Merkels Macht verfliegt. Kaum jemand wird noch groß investieren in eine Zukunft mit dieser deutschen Kanzlerin.
Nicht zu früh freuen
Eine Regierung ohne Merkel – Linke, Liberale und Ökos sollten sich nicht zu früh darüber freuen. Annegret Kramp-Karrenbauer steht gesellschaftspolitisch rechts von Merkel. Jens Spahn agitiert marktradikaler und in der Integrationspolitik auf der harten Linie der CSU. Eine Kompromisskanzlerin Ursula von der Leyen würde sich womöglich durch Schneidigkeit von Merkel abgrenzen.
Und die SPD? Quält sich gerade erst in eine Analyse ihrer Krise hinein. Dass SPD-Chefin Andrea Nahles in Kürze einen dynamischen Wahlkampf starten würde, scheint etwa so wahrscheinlich wie ein WM-Sieg von Panama. Die Linkspartei zerlegt sich kunstvoll. Nur die Grünen unter Habeck und Baerbock sind gut druff. Aber für Schwarz-Grün oder gar Jamaika mit der CSU, wie wir sie jetzt erleben, braucht man ordentlich Fantasie.
Isch over? Merkel könnte einfach neben der Aggression von Seehofer stehen bleiben. Aber falls der Innenminister der Bundespolizei gegen ihren Willen befiehlt, Flüchtlinge abzuweisen, kostet sie das wieder Autorität.
Die Macht ist weg, nur Merkel ist noch da.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“