Angela Merkels Alternativlos-Rhetorik: Ton in Ton

Immer wieder nennt Merkel ihre Politik alternativlos. Warum Alternativlosigkeit als Regierungsstrategie der Demokratie schadet.

Angela Merkel trägt braun und steht vor einer braunen Wand

Merkels erfolgreiche Strategie bis 2015: nüchternes Durchwurschteln Foto: dpa

Machiavelli gab einst den Ratschlag: „Kluge Männer machen sich immer ein Verdienst aus ihren Handlungen, auch wenn sie allein die Notwendigkeit dazu zwingt.“ Bis heute sind die Werke des florentinischen Staatsphilosophen ein Menetekel für die Politikberatung. Was würde er zu Politikerinnen und Politikern sagen, die sich auf Notwendigkeit, Alternativlosigkeit oder Sachzwang berufen, statt sich ihrer Verdienste und Taten zu rühmen? Politiker verwenden immer wieder die sogenannte TINA-Rhetorik – „TINA“ für Margaret Thatchers berühmten Slogan „There is no alternative“.

In Deutschland nutzte Angela Merkel das Mantra der Alternativlosigkeit als rhetorische Allzweckwaffe und rechtfertigte damit zahlreiche Entscheidungen. Auch als Reaktion auf diese viel kritisierte Rhetorik und die Politik der etablierten Parteien formierte sich die AfD, die sich als „wahre Opposition“ der zuvor schweigenden, übergangenen Mehrheit geriert und für sich das Verdienst reklamiert, „den gesunden Menschenverstand“ zu kennen und „Mut zur Wahrheit“ zu besitzen. Doch mit diesen Slogans begehen Rechtspopulisten wie TINA-Rhetoriker einen Fehler.

Wir sind längst keine Bürger in Machiavellis florentinischem Stadtstaat mehr; Fürstenherrschaft und Willkür sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewichen. Wenn Politiker wie Merkel ihre Politik alternativlos nennen, erscheint das zunächst widersinnig. In Demokratien stellen sich Parteien mit einem Programm zur Wahl und artikulieren alternative Vorschläge politischer Gestaltung. Die Rede von Alternativlosigkeit verwischt entweder jene Unterschiede oder diskreditiert andere Entwürfe als irrational und potenziell illegitim. Darunter leidet die politische Debatte.

Eine starke Opposition untergräbt nicht die Legitimität politischer Entscheidungen, sondern verstärkt diese, denn überstimmte Bürger sehen ihre Belange weiterhin im politischen Willensbildungsprozess repräsentiert und können für einen Politikwechsel stimmen. Suggeriert die TINA-Rhetorik, dass Entscheidungen nicht hinterfragt oder revidiert werden sollen, kann dies zu Frustration, einem Abwandern von Opposition in außerparlamentarische Foren oder – wie bei der AfD – zu einer radikalisierten Opposition führen.

Ein antipluralistisches Verständnis

Die Behauptung von Alternativlosigkeit ist nicht nur riskant, sondern auch irreführend. Demokratische Entscheidungen können keine absolute Richtigkeit oder Wahrheit beanspruchen, sie sind fehlbar und komplex. Die Rede von „Wahrheit“ und „gesundem Menschenverstand“ beruht auf dem gleichen Argumentationsmuster wie TINA: Beide karikieren die Handlungslogik parlamentarischer Aushandlungsprozesse und zeugen von einem antipluralistischen Verständnis, indem sie nahelegen, es gäbe nur eine richtige, allen einsichtige Lösung.

Einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit und moralische Richtigkeit der eigenen Politik erhob auch Margaret Thatcher. Für sie folgte Politik dem Common Sense, ihre wirtschaftsliberale und zugleich gesellschaftspolitisch konservative Agenda sei alternativlos. Neoliberale Politik sei vernünftig, da sie das moralisch und logisch Gebotene umsetze. In der Politik gebe es ein klares Richtig und Falsch. Thatcher diskreditierte mit TINA vor allem linke Politik. Damit stellte sie nicht nur für die britische Politik wesentliche Weichen.

Sozialdemokratische Parteien „modernisierten“ sich in den 1990ern und rechtfertigten Deregulierung und Liberalisierung als strukturelle Anpassung. Der heroische Gestus der „Anpacker“, die überfällige Reformen angingen, war aber nicht allen vermittelbar und bedurfte zuweilen des autoritären „Basta“ von Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder. Die Sozialdemokraten schwankten zwischen einer emphatischen Identifikation mit ihrer Politik und einem demonstrativen Sichberufen auf Notwendigkeit und Pragmatismus. Indes verblich das Rot der sozialdemokratischen Alternative; das parteipolitische Angebot wurde schmaler.

Wähler brauchen Optionen

Die Langzeitfolgen jener Politik, der Deregulierung des Finanzmarkts, aber auch der unausgewogenen Architektur des Eurowährungsraums haben wir in den letzten Jahren erfahren. In der Eurozonenkrise griffen Politiker auf TINA-Rhetorik zurück, um Entscheidungen zu legitimieren, die unter Zeitdruck und Unsicherheit getroffen wurden. Als in der Krise Ordnungen und wirtschaftspolitische Denkmuster brüchig wurden, zogen sich Akteure auf alte Rezepte sowie vermeintliche Sachzwänge zurück und „fuhren auf Sicht“, so Wolfgang Schäuble. TINA sollte Sicherheit vermitteln und langwierige Debatten beenden. Finanzmärkte und Gläubiger brauchen Sicherheit – Wähler aber brauchen Optionen.

Bis heute besteht das Dilemma zwischen demokratischer Legitimität, Zurechenbarkeit, Transparenz und einer europäisierten Finanz- und Geldpolitik. Das institutionelle Machtgefüge hat sich zugunsten außerordentlicher Treffen nationaler Exekutiven, zugunsten der EZB und der Europäischen Kommission verschoben. Deren Krisenlösungsversuche reizen die EU-Verträge maximal aus, und Maßnahmen wie Rettungsschirme übersteigen einfache „Sach-“ oder „Handlungszwänge“ – sie etablieren neue Handlungspfade, deren Konsequenzen noch nicht klar sind.

Sicherheit wollte und will auch Angela Merkel vermitteln. Ihre Rhetorik soll Kritik abwehren, politische Wendemanöver rechtfertigen und Alternativen marginalisieren. Merkel nutzt Machtinstrumente wie TINA, bei denen die tatsächliche Ausübung politischer Macht hinter einer Inszenierung von Sachlichkeit und Pragmatismus verborgen wird. Sie versucht Interessenkonflikte zu vermeiden, den Rechtfertigungsballast unliebsamer Entscheidungen loszuwerden und deren politische Autorenschaft zu verschleiern.

Wendepunkt Flüchtlingskrise

In der Republik Merkel offenbart sich der Regierungsmodus einer Großen Koalition als politische Kultur. Allerorten zeigt sich ein Unwille, politische Konflikte als rationale Auseinandersetzungen und Diskussionen über alternative Entwürfe zu begreifen und Bürgern zu vermitteln, was auf dem Spiel steht. Statt populistische Vereinfachungen im „postfaktischen Zeitalter“ diskursiv auseinanderzunehmen, entziehen sich Politiker wie Merkel den normativen Fragen hinter ihren Entscheidungen und lassen manchen Bürger glauben, Dissens sei in einer Demokratie etwas Illegitimes. Eine Politik, die mittels TINA-Rhetorik die eigene Sachlichkeit und vermeintliche ideologische Neutralität inszeniert, provoziert gewissermaßen den Backlash, der „gefühlte Wahrheiten“ und „nationale Bedürfnisse“ gegen politische Rationalität und Expertise ausspielt.

Die Grünen standen einmal für Steuererhöhungen. Nun würden sie aber lieber gut bei der Bundestagswahl abschneiden – mit den Stimmen von Anwälten und Oberärzten. Wie sie still und leise ihren Kurs korrigieren, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. Oktober. Außerdem: Fußball gilt als Integrationsmotor? Ist er das wirklich? Und: Selbst wenn Donald Trump nicht gewählt wird – was wird aus dem Hass, den er gesät hat? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Merkels bis 2015 erfolgreiche Strategie des nüchternen Durchwurschtelns ist umso problematischer, als sie am Ende apodiktische Slogans wie TINA und „Wir schaffen das“ zur politischen Selbstimmunisierung wählt. So drehte sich in der Flüchtlingskrise der Wind: Merkel erschien uns als humanistische Gesinnungsethikerin. Doch tatsächlich hat die pragmatische Kanzlerin längst den Kurswechsel zu einer rigideren Asylpolitik vollzogen.

Zwar glauben noch viele an die Strahlkraft der deutschen Version von „Yes we can“; manchen gilt Merkels Mantra als optimistischer Leitfaden der Asyl- und Flüchtlingsarbeit, anderen als „TINA-Rhetorik 2.0“, weil es erneut die politische Debatte behindere. Aber die schon ausgerufene Kanzlerdämmerung verdeutlicht, dass die Wähler Merkel als pragmatisch-sachliche Macherin gewählt haben. Diesen Ruf muss sie wiederherstellen. Nun ist die Gesellschaft allerdings polarisiert, sitzt die AfD in zahlreichen Landtagen. Es bedarf also einer robusten Streitkultur, in der sich der politische Diskurs nicht weiter nach rechts verschiebt.

Es ist der Mangel an sichtbarer Oppositionsarbeit und politischer Vielfalt, der Demokratien schadet und den Populisten ausnutzen. Politiker sind weder ohnmächtige Marionetten, noch verhindert der globale Finanzmarktkapitalismus politische Willensbildung und Entscheidungsfindung. Auch inmitten wirtschaftlicher Verflechtung und internationaler Einbettung bleibt der Nationalstaat Ort politischer Problemlösung. Wir brauchen aber keine machiavellistischen Heroen, die sich ihres Mutes rühmen und Wahrheit für sich reklamieren, sondern politische Akteure, die wählbare Alternativen formulieren, Fantasien gesellschaftlicher Gesamtsteuerung zerstreuen, Verfahren der parlamentarischen Entscheidungsfindung bejahen und den Sinn politischer Kompromisse herausstellen. Nur so lässt sich die liberale Demokratie gegen ihre Anfeindungen verteidigen.

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