Impfgegner in Bayern: Naturgläubig zwischen den Wipfeln
Sie kommen mit Kerzen: In Bayern gehen Menschen aus der bürgerlichen Mitte auf die Straße. Viele von ihnen glauben an Esoterik und Homöopathie.
Er sei hier, um gegen eine „Zwangsimpfung“ und die „Vermummung unserer Kindern“ zu protestieren, sagt ein Mann. Dann fügt er hinzu: „Ich verstehe etwas von Gesundheit, bin Wanderführer und Meditationslehrer und habe jahrelang Menschen dabei geholfen, ihr Immunsystem zu stärken!“
Ein Accessoire tragen fast alle dieser Menschen in ihrem Gesicht: ein überlegen wirkendes Lächeln. Es gilt den Gegendemonstranten, die sich im unteren Teil der Marktstraße versammelt haben.
Vor ein paar Monaten hätten wohl die meisten Bürger_innen in Oberbayern noch gelacht, hätte ihnen jemand prophezeit, dass bald ganze Pulks von Menschen in der Provinz zwischen München und Garmisch Lichterprozessionen veranstalten würden. Doch seit Anfang Dezember haben sich die „stillen Spaziergänge“ genannten Demonstrationen im Oberland ähnlich wie die Omikron-Variante ausgebreitet. Man protestiert in pittoresken Kleinstädten wie Murnau, Mittenwald, Wolfratshausen oder Bad Tölz, mit Papierherzen und Kerzen.
Scheinbar friedlich, aber doch ziemlich angriffslustig
Wie groß jedoch die Angriffslust unter diesen Impfgegnern ist, zeigt sich, sobald sie auf Widerspruch stoßen. Eine Tölzer Gegendemonstrantin hatte gedruckte Plakate und Postkarten gestaltet, auf denen sie zur Impfung aufrief. „Ich wurde von ‚Spaziergängern‘ beschimpft“, sagt sie. „Man sagte mir, ich gehörte erschossen und aufgehängt.“
Im 40 Kilometer südlich von München gelegenen Wolfratshausen stehen an einem Abend in der Haupteinkaufsstraße über 900 „Spaziergänger“ etwa 450 angemeldeten Gegendemonstranten gegenüber. Letztere gehören zur neu gegründeten „Wolfratshauser Menschenkette“, die für solidarisches Verhalten in der Pandemie wirbt. Ihre Teilnehmer haben sich auf der einen Straßenseite aufgereiht. Sie tragen Masken und halten Abstand zueinander.
Auf dem Bürgersteig gegenüber zieht die Karawane der Impfgegner schweigend entlang. Einer von ihnen löst sich, geht auf die Gegendemonstranten zu, filmt ihre Reihe betont offenkundig ab, so als wolle er Beweise sammeln. „Ich habe das als bedrohlich empfunden“, sagt später eine junge Frau, die zu den Gegendemonstranten gehört.
In Mittenwald kippt ein „Spaziergänger“ einem Fotojournalisten heißes Kerzenwachs hinterrücks auf die Jacke. Und in Murnau fragt ein Demonstrant einen für das Jüdische Forum Berlin arbeitenden Kameramann: „Was geht das den Juden an, was hier in Murnau los ist?“
Der Wind treibt Schneeflocken über das Blaue Land, jene hügelige Voralpenlandschaft bei Murnau am Staffelsee, die einst die Freigeister und Künstler des Blauen Reiters angelockt hat. In der Murnauer Polizeiinspektion sitzt Joachim Loy in seinem Büro. Loy ist Erster Polizeihauptkommissar und leitet in der Region regelmäßig Einsätze bei Antiimpfpflicht-Demonstrationen.
Joachim Loy, Polizeihauptkommissar in Murnau
Durch seine mehrjährige Arbeit beim Staatsschutz hat er Erfahrung mit extremistischen Tendenzen. Loy sieht die nicht angemeldeten Versammlungen der Impfgegner mitnichten als harmlos oder unpolitisch an – nicht nur deswegen, weil er dort immer wieder Vertreter der Reichsbürger-Szene erkennt. Für ihn sind die „Spaziergänger“ nicht einfach hilflose Opfer, die von Rechts überrumpelt werden. „Viele der sogenannten normalen Bürger, die da mitgehen, tragen bereits eine demokratiefeindliche Einstellung in sich, die wir bei der Polizei als sicherheitsgefährdend bezeichnen“, sagt Loy.
„Den Staat vorzuführen, gehört zum Kalkül dieser „Spaziergänger“, sagt der Kommissar. „Nach dem Versammlungsrecht muss es bei jeder Kundgebung einen Versammlungsleiter geben, der dafür sorgt, dass Auflagen eingehalten werden. Hat aber niemand offiziell diese Rolle, muss die Polizei diese Leitungsrolle übernehmen, um für die Sicherheit zu sorgen. Damit gelingt es den Impfgegnern, die Polizei auch noch für ihr Vorhaben einzuspannen.“
Fakt ist: In Bayern entpuppten sich die großen Corona-Demonstrationen in den Städten von Beginn an als ein Zweckbündnis zwischen rechtsextremen Gruppen und Vertretern eines alternativen, esoterischen Spektrums. Und auch die „Spaziergänger“ auf dem Land haben ihre Strippenzieher und Stichwortgeber aus dem rechten Lager. Zu den wöchentlichen Demonstrationen in Bad Tölz, Geretsried, Lenggries, Penzberg oder Wolfratshausen ruft explizit die Neonazi-Partei Der Dritte Weg auf. Wes Geistes Kind diese Partei ist, verraten ihre Slogans wie „Deutsche Kinder braucht das Land“, „Kein deutsches Blut für fremde Interessen“ oder „Asylflut stoppen“.
Der Geretsrieder Andreas Wagner, bis vor Kurzem Bundestagsabgeordneter der Linken für den Wahlkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, hatte auf Facebook erklärt: „An einer Demo ist etwas faul, wenn Verschwörungsideologen und Rechtsextremisten dazu aufrufen.“ Danach fand er einen Sticker in seinem Briefkasten mit der Aufschrift: Good Night, Left side“, die Grafik darauf zeigt eine Pistolenmündung, die direkt auf den Betrachter gerichtet ist. Außerdem bekam der Politiker eine unbestellte Postsendung zugeschickt, die an Andreas Jehuda Wagner adressiert war.
Ein Eldorado für Esoteriker
Was ist das für ein Milieu, das im wohlstandssatten Münchner Süden mit Rechtsextremisten auf die Straße geht und dabei abstreitet, irgendetwas mit ihnen gemein zu haben? Dazu kann Matthias Pöhlmann Auskunft geben. Der Weltanschauungsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern beobachtet seit mehr als 25 Jahren die Allianzen zwischen esoterischen und rechtsoffenen Strömungen. Er sagt: „Das Voralpenland ist ein Eldorado für esoterische Anbieter, Homöopathie- und Naturheilkunde-Fans.“ Das erkenne man beispielsweise an den regionalen Anzeigenblättern. „Dort finden sich oft Angebote wie Energiearbeit oder fernöstlich inspirierte, körpernahe Behandlungen“ – Therapiekonzepte, die ein Publikum anziehen, das Geld und Zeit für derlei hat. „Dieses Milieu lehnt mitunter die evidenzbasierte Medizin als Teil der Wissenschaft ab und neigt generell zu einer ablehnende Haltung gegenüber dem Staat“, sagt Pöhlmann.
Als Seelsorger hat sich Pöhlmann viel mit den Denkwelten dieser Menschen befasst, die in Alternativwirklichkeiten abgedriftet sind: „Verschwörungsgläubige haben oft ein vermeintliches Überwissen, das aus ihrer Sicht nur Erleuchteten zugänglich ist.“ Damit wähnten sich diese Überwisser, wie Pöhlmann sie nennt, als Elite. „Diesen Überlegenheitsanspruch bringen sie gegenüber der evidenzbasierten Wissenschaft in Stellung.“
Typisch dafür sei die Spiritualisierung von Krankheit. „In dieser Szene wird nach einem esoterischem Verständnis Leiden als selbst verschuldet betrachtet, woraus der Mensch dazulernen soll.“ Das Problem: In die Vorstellung von Krankheit als „Prüfung“ ist die Idee der Auslese eingewoben, also die Selektion der Schwachen von den Starken. „Das ist nichts anderes als Sozialdarwinismus, und der bildet den Brückenkopf rüber ins rechte Gedankengut“, sagt Pöhlmann.
Der Medizinhistoriker Malte Thießen aus Münster kennt die ausgeprägte Impfskepsis im süddeutschen Raum. Er sieht dafür zwei Gründe. „Zum einen gibt es im Alpenraum eine Tradition der Selbstbestimmung, die sich über die Ablehnung des Staates definiert“, erklärt der Historiker am Telefon. „Ein staatlich organisiertes Impfen wird als Vordringen des Staates in den eigenen Lebensraum verstanden und der eigene Körper als das Schlachtfeld, auf dem man den Einfluss des Staates zurückdrängt.“
Zum zweiten habe die Suburbanisierung ab den 1960er Jahren dafür gesorgt, dass bürgerliche Selbstoptimierungskonzepte und oft anthroposophisch geprägte Vorstellungen aus der Stadt aufs Land wandern. „Damit wurde eine zweite Welle der Impfskepsis in ländliche Regionen importiert.“ Zu beiden Denkrichtungen aber gehöre der Rückzug auf das eigene Ich, also der Egozentrismus.
Ein Verbot ist mehr als schwierig
In der vergangenen Woche hat die Wolfratshauser Gruppe von Impfbefürwortern an den Landrat appelliert, die „Spaziergänge“ per Allgemeinverfügung zu unterbinden, um dem zivilgesellschaftlichen Engagement den Rücken zu stärken. Tatsächlich ist es für die Kommunalbehörden schwierig, juristisch unangreifbare Allgemeinverfügungen gegen Versammlungen zu verhängen. Solange es nicht, wie in München geschehen, zu Rechtsbrüchen während dieser Zusammenkünfte gekommen ist, urteilen die bayerischen Gerichte zugunsten der Versammlungsfreiheit.
So heißt es denn auch in der jüngsten Pressemitteilung des Landratsamtes Bad Tölz-Wolfratshausen, dass „grundsätzlich die fehlende Anzeige einer Versammlung keinen Auflösungsgrund darstellt und diese durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt ist“. Richtschnur des behördlichen Handelns sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und oberstes Ziel, deeskalierend aufzutreten.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner meint dazu, die Politik stecke in einem Dilemma. „Politik und Polizei wollen eine Konfrontation vermeiden, damit möglichst keine Bilder von Polizeigewalt gegen Versammlungsteilnehmer entstehen. Genau solche Bilder aber will die extreme Rechte provozieren – auch auf dem Land.“
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