Ilse Aigner über Debattenkultur: „Diese moralische Attitüde nervt“
Die Debattenkultur hat einen Tiefpunkt erreicht, findet Bayerns Landtagspräsidentin Aigner. Die CSU-Politikerin plädiert für einen anderen Umgang unter Politikern.
taz: Frau Aigner, freuen Sie sich schon auf die nächsten fünf Jahre mit den Freien Wählern?
Ilse Aigner: Der Gedanke daran bereitet mir zumindest keine Bauchschmerzen. Wir haben ja mit den Freien Wählern gut zusammengearbeitet. Und ich wüsste nicht, warum wir das nicht weiterhin tun sollten. Die Schnittmengen zwischen CSU und Freien Wählern sind schon sehr groß.
Aber Sie müssen doch eine Mordswut haben: Da ist die CSU wegen Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger ohne ihr Zutun in eine Affäre hineingeschlittert und stand plötzlich vor einer Situation, wo sie nur verlieren konnte.
58, ist seit November 2018 Präsidentin des Bayerischen Landtags. Von 2008 bis 2013 war sie Bundesministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz
Es ist ja keine Frage, dass mir lieber gewesen wäre, wenn das Ganze nicht vorgefallen wäre. Aber ich finde gut, wie Markus Söder mit der Sache umgegangen ist. Er hat so entschieden, wie ich das auch erwartet habe. Andernfalls hätten wir im bürgerlichen Lager große Schwierigkeiten bekommen.
Sie waren wirklich zufrieden, wie die Sache gelaufen ist?
Ich hätte mir gewünscht, dass Hubert Aiwanger schneller reagiert und sich früher entschuldigt hätte, dann hätten wir die ganze Diskussion nicht gehabt. Aber schließlich hat er sich entschuldigt, und damit ist das Thema jetzt auch durch.
Aiwanger spricht von einer Schmutzkampagne gegen ihn. Sehen Sie die auch?
Nein, eine Kampagne erkenne ich nicht. Aber ich frage mich schon, ob man diese Story zu einer Zeit hätte veröffentlichen sollen, wo die Faktenlage noch so dünn war, wo kein einziger Zeuge bereit war, sich namentlich nennen zu lassen oder eine eidesstattliche Versicherung abzugeben. Das hat dazu beigetragen, dass es für viele in der Bevölkerung wie eine Kampagne gewirkt hat.
Es gab ja breite Zustimmung dafür, Aiwanger im Amt zu belassen – bis hin zu Leuten, die mit ihm sehr hart ins Gericht gegangen sind wie Charlotte Knobloch und Josef Schuster. Oft wurde argumentiert, andernfalls hätte man Aiwanger zum Märtyrer gemacht. Ein Argument, das Sie teilen?
Ich teile zumindest die Befürchtung. Dieser Opfermythos wäre sicherlich in weiten Teilen der Bevölkerung verfangen. Da, wo es ohnehin schon den Verdacht gibt, dass die veröffentlichte Meinung von oben gesteuert wird. In den Augen solcher Leute wäre das natürlich nur der Versuch gewesen, jemanden mundtot zu machen.
Wie haben Sie Aiwanger während der vergangenen Legislatur im Landtag wahrgenommen?
Definitiv nie als Antisemiten. Natürlich ist nicht jede Aussage von ihm auf mein Wohlwollen gestoßen, manches war auch grenzwertig. Es hat sich ja in Sachen Debattenkultur in den letzten Jahren ohnehin viel verändert. Das hat aber nicht nur mit einer Person zu tun, sondern mit einer ganz neuen Konstellation: Wir haben mittlerweile sechs verschiedene Parteien im Landtag, die alle versuchen, in der öffentlichen Wahrnehmung vorzukommen, was nicht immer der Qualität der Auseinandersetzung zugute kommt. Und vor allem hat das mit dem Einzug einer Partei in den Landtag zu tun.
Sie reden von der AfD, die seit 2018 im Parlament sitzt. Würden Sie denn sagen, dass die Debattenkultur auf einem Tiefpunkt angelangt ist?
Leider ja. Die aktuelle Situation macht mir große Sorgen. Das betrifft nicht nur den bayerischen Landtag. Wir sehen das auch im Bundestag und anderen Parlamenten, wie da das System verächtlich gemacht wird, Kollegen diskreditiert und herabgesetzt werden. Deshalb müssen wir uns schon über den Stil unterhalten. Das Bild, das wir da teilweise nach außen abgeben, ist nicht gut.
Was waren für Sie die schlimmsten Vorfälle während der vergangenen Legislatur?
Der absolute Tiefpunkt war die Sache mit der Gasmaske. Dass in einem deutschen Parlament einer mit einer Gasmaske am Rednerpult steht, um gegen die Maskenpflicht zu demonstrieren – das ist doch unfassbar. Auch dass große Teile der AfD-Fraktion während der Rede von Charlotte Knobloch den Saal verlassen haben, hat mich wirklich schockiert. Dazu kommt aber auch, dass aus der Mitte des Landtags heraus Fake News produziert wurden. Einmal war ich ja selbst betroffen, als ein AfD-Abgeordneter ein Foto kursieren ließ, auf dem ich vermeintlich mit Kindern AfD-Luftballons steigen lassen habe. Natürlich war das eine Fotomontage.
Wo wir gerade bei der AfD sind: In Thüringen hat Ihre Schwesterpartei CDU jetzt mit den Stimmen der AfD eine Steuersenkung durchgesetzt. Ein Tabubruch?
Ich sehe das als keinen Tabubruch. Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag hat einen eigenen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, dem andere Fraktionen zugestimmt haben. Die sehr instabile Minderheitsregierung hätte sich ja im Vorfeld bewegen und auf die demokratische Opposition zugehen können – das tat sie aber nicht. Die AfD ist im Osten leider ein großer Player, und die CDU muss unabhängig von ihr Politik machen können. Man kann nicht aus lauter Angst vor einer Zustimmung durch die AfD in eine politische Lähmung verfallen. Das wäre für die Demokratie fatal und würde der AfD in die Hände spielen. Übrigens haben auch andere Parteien schon wie die AfD abgestimmt.
Zurück nach Bayern: Sie haben während der vergangenen fünf Jahre über zwei Dutzend Rügen ausgesprochen – ein absoluter Rekord.
27 waren es genau. 23 davon allein an Abgeordnete der AfD. Aber was mich so nachdenklich stimmt: Es hat überhaupt keine Wirkung gezeigt. Teilweise tragen die ihre Rügen wie Trophäen vor sich her. Nach dem Motto: Jetzt habe ich’s denen mal richtig gezeigt. Deshalb denken wir jetzt auch über Verschärfungen nach.
Sie wollen einen „Demokratiekodex“ einführen.
Bei dem „Demokratiekodex“ geht es um Fälle, in denen sich Abgeordnete außerhalb des Parlaments komplett daneben benehmen – sei es bei Veranstaltungen oder in Sozialen Medien. Da haben wir vom Landtag aus bis jetzt überhaupt keine Handhabe. Ich habe vor allem die sozialen Medien im Kopf, weil da geht es sehr schnell mit Verschwörungstheorien, mit Fake News und technischen Manipulationen los. Die Grundidee ist, dass sich Abgeordnete freiwillig mit ihrer Unterschrift verpflichten, auf so etwas zu verzichten. Und wenn dann jemand ganz offensichtlich gegen diesen Kodex verstößt, hat das vielleicht doch eine entsprechende Außenwirkung.
Aber auch den Rügen wollen Sie etwas Nachdruck verleihen.
Das wirksamste Mittel dürften hier wohl Geldstrafen sein, wie es sie beispielsweise auch im Bundestag gibt. Die Details, auch die Höhe, prüfen wir gerade noch.
Ein Großteil des Problems liegt ja, wie Sie sagen, außerhalb der Parlamentsmauern: Haben wir da manchmal zu viel Stammtisch, zu viel Bierzelt, zu viel Twitter oder X, wie es sich jetzt nennt – und zu wenig Austausch?
Beim Bierzelt bin ich eher großzügig – schon allein, weil es einfach zur bayerischen Lebensart dazugehört, und natürlich wird da zugespitzter formuliert. Viel gefährlicher finde ich die Sozialen Medien, wo sich in relativ geschlossenen Kreisen Fake News und Verschwörungstheorien unglaublich schnell ausbreiten. Das macht mir wesentlich mehr Angst, als wenn im Bierzelt mal ein bissl markant diskutiert wird.
Bräuchten wir generell einen verbalen Abrüstungspakt?
Zumindest sollten wir Politiker immer bedenken, welche Außenwirkung wir haben. Und dazu gehört natürlich, wie man mit den politischen Mitbewerbern umgeht. Ich spreche bewusst von Mitbewerbern, nicht von Gegnern. Mir muss deren inhaltliche Ausrichtung nicht gefallen. Trotzdem kann ich sie mit Respekt behandeln und in der Argumentation sachlich bleiben.
Ihre Partei ist da ja auch kein Unschuldslamm. CSU-Chef Söder lässt kaum eine Gelegenheit aus, den Kulturkampf heraufzubeschwören. Da geht es dann nur noch um Wokeness, Gendern, Fleischkonsum …
Die Themen haben wir ja nicht erfunden. Vielleicht sollte man sich da zum Beispiel auch bei den Grünen mal überlegen, ob es wirklich zwingend notwendig ist, die Leute zu belehren und zu erziehen, ihnen zu sagen, dass sie nicht so viel Fleisch essen sollen. Es ist diese moralische Attitüde, die die Leute einfach nervt. Und ich finde, dass es auch die Aufgabe eines Politikers ist, die Themen aufzugreifen, die die Leute bewegen.
Ursula Münch, die Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, meinte jüngst in einem Interview, sie unterstelle Politikern wie Söder schon auch, „nicht nur eine Stimmung der Bevölkerung aufzugreifen, sondern diese Stimmung anzuschüren“. Wenn Sie zu einer Grünen-Veranstaltung gehen, werden Sie recht wenig über die angeblichen Pläne zur Zwangsveganisierung hören, im Wahlkampf Ihrer Partei dafür umso mehr.
Ich muss gestehen, dass ich selten zu Grünen-Veranstaltungen gehe. Aber diese Themen werden durchaus auch in Berlin gespielt. Und es sind ja nicht nur die Grünen. Das Thema ist doch im Alltag präsent: Da gibt es die Schulkantinen, die ihren Speiseplan in puncto Fleisch reduzieren. Und natürlich spielen da auch die Medien eine Rolle. Gendert die taz nicht auch?
Wir halten es da mit der Liberalitas Bavariae: Das machen die Autorinnen und Autoren, wie sie wollen.
Sehen Sie: Mit der bayerischen Lebensart liegt man nie verkehrt.
Es sind kaum mehr als zwei Wochen bis zur Wahl. Während Markus Söder immer die Latte möglichst tief hängen wollte, haben Sie gern mal durchklingen lassen, dass für die CSU 40 Prozent plus X schon drin sein sollte. Finden Sie das immer noch?
Natürlich gefallen mir die aktuellen Umfragen unter dem Eindruck der Aiwanger-Affäre nicht. Aber ich glaube immer noch, dass eine Volkspartei wie die CSU großes Potenzial hat. Jetzt geht es darum, dieses bis zum 8. Oktober maximal auszuschöpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands