Die Causa Aiwanger und ihre Folgen: Jetzt erst rechts?

Nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts gibt sich Söder empört über seinen Vize, scheut aber Konsequenzen. Wie geht's in Bayern weiter?

Portrait

Was soll er bloß tun? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Foto: Peter Kneffel/dpa

MÜNCHEN taz | Noch nicht einmal zwei Minuten. Diesmal hat Hubert Aiwanger das Rennen gemacht. Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Dienstag noch sechs Minuten für seine Pressekonferenz benötigt, unterbietet ihn sein Stellvertreter am Donnerstag noch deutlich. Was beide Auftritte in der vergangenen Woche gemein haben: Nachfragen sind den Journalisten nicht gestattet, ihre Statements lesen die beiden sonst so redseligen Politiker ab – etwas, was Söder sonst selten, Aiwanger praktisch nie tut. Spätestens da hat es auch der Letzte gemerkt: Etwas ist faul im Freistaate Bayern.

Was da faul ist, das hat ganz offensichtlich mit diesem Hubert Aiwanger zu tun, der da am Donnerstag um 16.30 Uhr in seinem Ministerium etwas nervös vor den Mikrofonen sitzt, noch schnell an seinem Trachtenjanker rumnestelt, zweimal die Nase hochzieht, als schnupfte er eine Prise Tabak, und dann so Dinge sagt wie: „Es sind Aussagen aufgetaucht, die den Eindruck vermitteln, ich wäre als Jugendlicher auf einen menschenfeindlichen Weg geraten.“ Oder: „Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Flugblatt oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe.“ Aber auch: „Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertiggemacht werden.“

Die Einlassung ist knapp und nicht ganz schlüssig. Es wird nicht einmal ersichtlich, wofür sich Aiwanger denn nun aus seiner Sicht entschuldigt. Wofür er sich tatsächlich einer Schuld bewusst sei. Stattdessen Erinnerungslücken und eine Gegenattacke. Man muss also wohl doch noch einmal ausholen: Worum geht es?

Vordergründig geht es um Vorkommnisse aus dem Jahr 1987, als Aiwanger Elftklässler am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg war. Vorkommnisse, deren Veröffentlichung durch die Süddeutsche Zeitung (SZ) am vergangenen Wochenende ein Beben in der Landespolitik auslösen.

Hitlergruß und Witze über Auschwitz

Da ist dieses antisemitische Flugblatt, das damals an Aiwangers Schule die Runde machte und das die SZ jetzt veröffentlichte, von dem wohl viele annahmen, er selbst habe es verfasst, dessen Urheberschaft am vergangenen Samstag jedoch sein Bruder Helmut für sich reklamiert. Hubert Aiwanger wiederum, heute Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern, gibt immerhin zu, dass Exemplare des Flugblatts in seiner Schultasche gefunden worden seien, er vielleicht welche verteilt habe. In dem Flugblatt werden Opfer des Holocausts auf übelste Weise verhöhnt.

Dazu gesellen sich in den folgenden Tagen weitere Erzählungen über den Aiwanger von damals. Berichte von einem, der gern Hitler imitierte, den Hitlergruß zeigte, „Mein Kampf“ las und Witze über Auschwitz riss, einen strengen Seitenscheitel trug und einen Oberlippenbart, in dem manche ein Hitlerbärtchen erkannt haben wollen. Es geht um Ereignisse, die über 35 Jahre her sind.

Darüber hinaus geht es allerdings um die Frage, was diese Ereignisse über den Aiwanger von heute aussagen, wie sie sich einfügen in das Gesamtbild eines Politikers, der seinen Hang zum Populismus immer stärker auslebt, der etwa mit seiner Forderung für Empörung sorgte, die schweigende Mehrheit solle sich die Demokratie zurückholen. Eines Politikers, der es einem schwer macht, das, was da in den Achtzigern stattgefunden haben mag, als jugendliche Verirrtheit abzutun.

Bewusste Tabubrüche

Es ist also definitiv etwas faul in Bayern – und das kurz vor der Wahl am 8. Oktober. Aktuell lässt sich nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Affäre auf den Wahlkampf und vor allem das Wahlergebnis haben werden. Noch vor zwei Wochen hatte man sich im Freistaat auf einen eher langweiligen Wahlkampf eingestellt, das Ergebnis, so waren sich die Beobachter einig, stehe ja schon fest: die Fortsetzung der schwarz-orangefarbenen Koalition. Die Umfragen sahen die CSU bei 38 bis 39 Prozent und damit zumindest knapp über den desaströsen 37,2 Prozent von 2018. Um Platz zwei wurde ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen AfD und Grünen erwartet – bei etwa 14 Prozent. Danach folgten Freie Wähler mit 11 bis 14 und die SPD mit 9 bis 11 Prozent der Stimmen. Die FDP lag irgendwo in der Nähe der Fünf-Prozent-Hürde.

CSU und Freie Wähler also. Söder und Aiwanger. Inhaltlich trennte die beiden nicht viel. Der augenfälligste Unterschied war Aiwangers Auftreten, das noch deutlich populistischer rüberkam als das Söders. Das Zusammenspiel mit dem Koalitionspartner hatte aber auch seine Vorteile für Söder. Dass der Trend für die AfD in Bayern weniger stark ist als im Bund, könnte durchaus auch mit Aiwanger zu tun haben.

Bürgerlich, pragmatisch, unideologisch, auf dem Lande verankert und nahe bei den Problemen der Leute. So kennt man die Freien Wähler, und so haben sie bereits ihre Erfolge im Kommunalen eingefahren, lange bevor Aiwanger sie 2008 in den Landtag brachte. Und diese Charakterisierung traf im Großen und Ganzen bislang auch für den Politiker Aiwanger zu, auch wenn sich während der Jahre in der Regierung die Frequenz der bewusst platzierten kleinen Tabubrüche erkennbar erhöht hat.

Aiwanger wandelt, ja lustwandelt gerne auf schmalem Grat. Beispiel Klimakrise: Wenn’s im Sommer mal kalt ist, kann man fast darauf wetten, dass der Mann einen Spruch ablässt, mit der Erderwärmung könne es nicht so weit her sein. Zwar bleibt er im scherzhaft Vagen, warnt aber doch vor „Klimapanik“ und kann den Verdacht nicht ausräumen, sich einer gewissen Wählerschaft anzudienen.

Söder taktiert

Markus Söder gibt sich nun angesichts der Flugblatt-Affäre empört, scheut vor Konsequenzen jedoch zurück, spielt auf Zeit. In seinem Statement nach einer Krisensitzung mit dem Koalitionspartner am Dienstag fordert er: Aiwanger muss einen Katalog von 25 Fragen beantworten. Welche Fragen? Bis wann? Wie müssen die Antworten ausfallen, dass Söder den Mann weiter für ministrabel hält? Das alles lässt Söder offen. Ein Versuch, die Angelegenheit über den Wahltermin hinaus zu vertagen?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

So moralisch zweifelhaft Söders Taktiererei ist, so nachvollziehbar ist sie angesichts seiner frühen Festlegung auf die Freien Wähler als Partner. Überhaupt ist es ein Geflecht von Abhängigkeiten, in dem die Akteure feststecken: Die CSU braucht die Freien Wähler, die Freien Wähler brauchen die CSU, sie brauchen aber auch Aiwanger, und Aiwanger wiederum braucht die Freien Wähler – sofern er weiter Regierungsverantwortung tragen will.

Die Koalitionspartner sitzen im selben Boot. Wenn die Freien Wähler in stürmische Gewässer geraten, ziehen sie auch die CSU mit hinein. Der Wahlkampf beider Parteien konzentrierte sich bislang darauf, die sogenannte Bayern-Koalition als harmonischen Gegenentwurf zum vermeintlichen Ampel-Chaos in Berlin zu verkaufen. Ein Image, das schon mal glaubwürdiger rüberkam.

Entlassung hätte unkalkulierbare Folgen

Fragt sich also, wie viel die Währung Glaubwürdigkeit an der Wahlurne zählen wird. Werden Wählerinnen und Wähler, die Aiwanger als Korrektiv zur CSU gewählt haben, nun doch zu dieser zurückkehren? Oder gar zu einer Ampelpartei wechseln? Werden manche Protestwähler statt der AfD nun für die Freien Wähler stimmen? Welche Partei wird angesichts der Affäre am ehesten Nichtwähler mobilisieren können? Eine Entlassung Aiwangers jedenfalls hätte aktuell unkalkulierbare Folgen für Söder und seine CSU. Denn nicht alle Wähler der Koalition teilen seine Empörung.

Die Grünen nutzen die Affäre um Aiwanger in jedem Fall schon mal dazu, die CSU erneut zu umgarnen. Ludwig Hartmann, ihr Fraktionsvorsitzender, fordert nach anfänglichem Zögern nicht nur Aiwangers Rücktritt, sondern wiederholt bei der Gelegenheit gleich mal wieder einen Spruch, den er schon bei der letzten Wahl gern zum Besten gab: mit Schwarz-Grün könne man „das Beste aus beiden Welten“ zusammenbringen.

Allerdings gehen die Chancen der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung gegen Null, solange Söder noch eine Option hat, die jetzige Regierung fortzusetzen. Anders als noch vor fünf Jahren lockt man mit der Aussicht auf Schwarz-Grün bei den bayerischen Wählerinnen und Wählern niemanden mehr hinter dem Kachelofen hervor. Und auch Söder hat sich mittlerweile vehement gegen die Grünen positioniert, seinen in der eigenen Partei nicht unumstrittenen Kurs des Bäumeumarmens und Bienenrettens beendet und sie zum Hauptgegner erkoren.

Sie dürften nur dann wieder ins Spiel kommen, sollte er sich tatsächlich gezwungen sehen, Aiwanger wegen etwaiger neuer Enthüllungen zu entlassen. Nicht viel anders sieht es mit der SPD aus, zumal Söder mit dem häufig auf Krawall gebürsteten SPD-Chef Florian von Brunn eine herzliche Abneigung verbindet.

Freie Wähler stehen hinter Aiwanger

Der naheliegendste Partner anstelle der Freien Wähler wäre die FDP. Mit ihr regierte die CSU schon im ersten Kabinett Seehofer (2008 bis 2013) einmal zusammen, was zum Frust der Liberalen kaum jemand bemerkte. Aktuell ist allerdings völlig unklar, ob die FDP in den Landtag kommt, und auch dann wäre eine Mehrheit mit der CSU eher unwahrscheinlich.

Eine Variante gäbe es, die für Söder – zumindest auf kurze Sicht – elegant wäre: Die Freien Wähler würden selbst ihren Chef selbst in die Wüste schicken und sich in völlig neuer Formation zurück ins Bett mit der CSU legen. Entsprechende Signale der CSU in Richtung Freie Wähler gibt es bereits. Nur: Deren Parteispitze hat solcherlei Ansinnen schon weit von sich gewiesen, sie weiß sehr wohl, dass sie den Wählerzuspruch zuvörderst Aiwanger zu verdanken hat.

Zudem wäre dieses Szenario für Söder nicht ungefährlich: Aiwanger könnte sich neue Partner suchen. Über Jahrzehnte war die CSU mit absoluten Mehrheiten verwöhnt. Dann kamen die Freien Wähler, dann die AfD. Der Stimmenanteil der CSU wurde entsprechend zurechtgestutzt. Käme nun – mal ganz wild spekuliert – noch eine „Liste Aiwanger“ hinzu, würde dies wohl zu einer weiteren Fragmentierung des rechten Blocks führen.

Eine Variante light wäre ein Deal mit den Freien Wählern nach der Wahl, wonach die Koalition fortgesetzt würde, aber ohne Aiwanger im Kabinett. Für ihn könnte dann etwa der jetzige Fraktionschef Florian Streibl nachrücken, er selbst wieder Fraktionschef werden. Dieses Szenario setzt allerdings voraus, dass Aiwanger damit einverstanden wäre – woran man getrost zweifeln darf.

Mehr als Gedankenspiele sind diese Szenarien nicht. Und bis zur Wahl sind es noch fünf Wochen, in denen viel passieren kann. Wobei auch das nur bedingt stimmt: Seit Montag werden in Bayern die Briefwahlunterlagen versandt. Manch eine dürfte ihr Kreuz schon gemacht haben.

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