Erinnerungskultur und Schuldabwehr: Die Deutschen und das Opfernarrativ
Eine deutsche Influencerin will ihr Kriegstrauma „rausreinigen“. Mit dieser Schlussstrich-Rhetorik bewegt sie sich in bekannter deutscher Tradition.
D as Trauma ist das It-Piece der Gegenwart. Neuerdings getoppt mit dem Zusatz transgenerational, kann mittlerweile fast alles Trauma sein. So wird der Begriff bedeutungslos.
Erstmals untersuchten Psychoanalytiker die Weitergabe von Traumata an die nachfolgende Generation im Zusammenhang mit Kindern von Shoah-Überlebenden. Diese hatten in ihrem Aufwachsen nach 1945 Symptome entwickelt, die sie auf die extremen Erfahrungen ihrer Eltern in den Ghettos und Konzentrationslagern zurückführten.
In meinem Urlaub in Brandenburg stolperte ich gerade über die Instagramstory einer Influencerin mit über 120.000 Followern, die eigentlich die Themen Mutterschaft und ADHS behandelt. Traumata seien gerade ihr Lieblingsthema, schrieb sie. Auch das Kriegstrauma stecke noch in uns (sic!) drin. Mit diesem uns meinte sie offensichtlich ihre deutschen Follower, mich sicher nicht. „Wir, meine Generation, ist jetzt ready, das teilweise ein bisschen rauszureinigen“, erklärte sie.
Ich hätte dieser Influencerin gerne geschrieben, dass sie sich mit ihrem Wunsch etwas „rauszureinigen“ in bekannter deutscher Tradition bewegt, die Deutschen wollten ihre Vergangenheit nach 1945 schließlich auch be-reinigen, mit dem Ziel einer sauberen Weste ohne Flecken ihrer Taten, aber leider konnte ich ihr das nicht mitteilen, weil das Internet auf dem brandenburgischen Land bekanntlich miserabel ist.
Erfahrungen, die Kinder von NS-Tätern im Krieg gemacht haben, waren sicher leidvoll. Nur haben diese Nachfahren, wie der Psychoanalytiker Kurt Grünberg einmal treffend formulierte, nicht nur unter den Kriegsfolgen gelitten, sondern insbesondere daran, „dass ihre Eltern den Krieg durch eigenes Mittun oder Unterlassen mitzuverantworten hatten“.
Alle in einem Boot?
Dieses Verschweigen oder Verharmlosen der eigenen (Mit-)Täterschaft ist es, was bis heute, also bis in die dritte und vierte Generation wirkt. Heißt: Deutsche meiner Generation haben sich oft noch immer nicht mit Schuld und Verantwortung, mit den Taten ihrer Vorfahren auseinandergesetzt.
Allein von der Kriegserfahrung zu sprechen, so als ob der Nationalsozialismus und die Vernichtungslager nie existiert hätten, kommt einer Verharmlosung gleich. In der Konsequenz lebt das deutsche, geschichtsrevisionistische Opfernarrativ weiter. Opfer, Täter und Mitläufer sind in ihrer Erfahrung plötzlich vereint, und die nachfolgenden Generationen, so Grünberg, sehen sich mit einer gemeinsamen Erbschaft konfrontiert: „Letztlich säßen wir doch alle in einem Boot…“.
Während ich diese Gedanken nicht loswerde, finde ich mich im Spreewald an einer Erinnerungstafel, Titel „1945“, wieder, die an die Bombardierung der Stadt Lübben erinnert. Exemplarisch steht diese Tafel dafür, was meist nicht erwähnt wird: was den Luftangriffen der Alliierten vorausging (nämlich der deutsche Raub- und Vernichtungskrieg), wer keinen Platz in den Luftschutzbunkern fand (u.a. Zwangsarbeiter:innen), warum und von wem Todeszahlen bis heute vervielfacht und propagandistisch genutzt wurden.
Bezeichnend ist doch, wie die Erinnerungsgeschichte bis heute wirkt. Auch in diesem Jahr haben sich wieder Neonazis zum Gedenktag an die Opfer der Bombardierung Dresdens versammelt. „Gestern Dresden, heute Gaza“, stand auf einem Banner. Von links hieß es im vergangenen Oktober von Hunderten Studenten: „Free Palestine from German guilt“.
In ihrer Konsequenz ähneln sich die Forderungen von Rechtsextremen, antiimperialistischen Linken und der Mutter-Influencerin. Sie alle wollen – bewusst oder nicht – einen Schlussstrich ziehen, die Deutschen von ihrer historischen Verantwortung befreien, etwas rausreinigen. An dieser Stelle stimmt es ja tatsächlich: sie sitzen im selben Boot.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit