Corona-Drama in Deutschland: Schlimmer geht’s immer
Wöchentlich sterben Hunderte an Covid, aber wirksame Coronamaßnahmen sind Fehlanzeige. Es wäre Zeit für eine politische Triage.
E s gibt Begriffe, die das Erregungslevel in der Pandemie verlässlich anheben. „Neue Mutante“ ist einer davon. Triage war in den vergangenen Tagen ein anderer. Triage heißt zu entscheiden, wer eine Chance auf Überleben durch medizinische Versorgung bekommt, wenn nicht mehr alle versorgt werden können. Vor dieser Entscheidung könnten tatsächlich bald viele Intensivmediziner stehen.
Und es gibt Stimmen, die sagen, man solle diese Entscheidung nicht mehr, wie vorgesehen, von den Erfolgsaussichten einer Behandlung abhängig machen, sondern vom Impfstatus. Sprich: Ein ungeimpfter 68-jähriger Covid-Patient würde nicht beatmet, weil er sich dem Gemeinschaftsschutz verweigert hat. Dafür bekäme die geimpfte 86-Jährige sein Bett.
So zumindest die Idee. Denkt man sie zu Ende, sollte sie dringend Angst machen in einem Land, in dem die Todesstrafe vor mehr als 70 Jahren abgeschafft wurde und in dem solche Überlegungen einer Lynchjustiz nahekommen. Es gibt bislang keine Impfpflicht. Niemand darf dafür bestraft werden, dass er sich nicht hat impfen lassen. Auch nicht auf der Intensivstation.
Vom „Brain Fuck“ profitiert das Virus
Noch hat Deutschland den Punkt aber nicht erreicht, an dem eine Triage nötig wäre. Es ist noch nicht so schlimm. Und auch das zweite Gruselszenario ist bisher nicht eingetreten: Die jüngste Variante, die in Südafrika auftauchte und mit ihren 50 Mutationen durchaus gefährlich erscheinen muss, hat sich noch nicht global verbreitet. Forscher:innen müssen erst klären, ob B.1.1.529 ansteckender, krankmachender ist als Delta. Bisher ist das offen. Es ist noch nicht so schlimm.
Aber dass es noch nicht so schlimm ist, weil es noch schlimmer geht, und dass man die Lage deshalb lieber noch ein bisschen beobachtet; bloß nicht bewegen, vielleicht wird es gar nicht schlimmer, sondern ist bald vorbei: Das ist der Brain Fuck, von dem das Virus profitiert. Das ist der Grund, warum wieder Hunderte sterben, jede Woche. Das ist der Grund, warum man sich vor der Triage fürchten muss. Nicht Sars-CoV-2 und seine Varianten, sondern das Abwarten und Abwägen im Angesicht der Katastrophe haben verhindert, dass offenkundig notwendige Maßnahmen frühzeitig ergriffen wurden, inklusive der Pflicht, sich zu immunisieren.
Weil die Politik offenbar noch immer zitternd auf irgendein Wunder wartet, gibt es keine Impfpflicht und kein bundesweites 2G in allen öffentlichen Einrichtungen, einschließlich der Bahn. Es gibt angesichts von Rekord-Inzidenzen kein Veranstaltungsverbot, keine landesweiten Schließungen im Einzelhandel, es gibt keine allgemeinen Kontaktbeschränkungen für private Treffen, keine globale Homeoffice- und Maskenpflicht. All diese Maßnahmen könnten noch Leben retten, viele Leben. Sie könnten auch die Verbreitung einer neuen, vielleicht gefährlicheren Variante verhindern oder eindämmen – jetzt, da eine mögliche solche Mutante sich bereits ausbreitet.
Doch es gibt sie nicht, diese Maßnahmen. Stattdessen gibt es fassungslose Bürger:innen, Wissenschaftler:innen und Intensivmediziner:innen, die sich fragen, ob denn überhaupt noch jemand regiert – oder regieren wird. Eine beruhigende Antwort darauf gibt es aber selbst mit der Ampel nicht. Statt geschlossen in den Startlöchern zu stehen, um gegen Corona endlich alles zu tun, versuchen Rot und Grün nach wie vor mit großer Geduld, den Freien Demokraten die Pandemie zu erklären. Von Konsequenz und Tatkraft keine Spur.
Wer nicht eingeschlafen ist, als der künftige Kanzler am Donnerstagabend im „heute journal“ die müden Zukunftsplänchen der Ampel für den Kampf gegen eine komplett eskalierte Coronasituation ins Mikrofon wisperte, mag sich deshalb gefragt haben, ob es nicht auch so etwas wie eine politische Triage gibt. Politiker:innen mit schlechten Chancen darauf, den Beginn der neuen Legislaturperiode ohne 50.000 weitere Coronatote über die Bühne zu bringen, werden vorsorglich an die Seite geschoben. Um Platz zu machen für andere, die handeln wollen.
Aber selbst für die Noch-Regierung ist es nicht zu spät. Ob man es Bundesnotbremse, Lockdown oder Maßnahmen nennt, dem Virus können noch Riegel vorgeschoben werden. Es muss nur endlich passieren. Sonst wird es doch noch: richtig schlimm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“