„Der ganze emotionale Klamauk fällt weg“

Bürgerräte bieten Bürgern die Möglichkeit, sich aktiv an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Die Politikerin Gisela Erler sieht darin einen Weg, die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden

Im Bürgerrat frisst nicht jeder jeden, sondern man hört einander zu Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Interview Peter Unfried

taz: Frau Erler, die einen rufen angesichts der zunehmenden Parteienverdrossenheit und des Erstarkens der AfD nach Bürgerräten, die anderen sind skeptisch. Sie haben als ­Staatsrätin die Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg ent­wickelt. Was sagen Sie dazu?

Gisela Erler: Ich halte es für sinnvoll, dieses Instrument lokal­, aber auch auf Bundes- und Landesebene einzusetzen. Es entsteht ein Mehrwert durch Bürgerräte, die man zu konkreten politischen Fragen oder auch zu grundsätzlichen Themen einberuft. Den Skeptikern sage ich: Natürlich werden ­Bürgerräte in Sachsen oder Ungarn oder wo auch immer die Gesellschaft sehr polarisiert ist, die Situation nicht über Nacht verändern. Aber sie können dazu bei­tragen, Leuten, die jetzt verhärtet, verunsichert, apathisch, wütend oder orientierungslos sind, ein Gefühl von Mitsprache und Austausch zu geben.

taz: Ein Bürgerrat, wie funktio­niert das genau?

Erler:Bürgerräte werden per Losverfahren bestimmt. Dabei werden Namen aus dem Melderegister nach dem Zufalls­prinzip gezogen. Für die Endauswahl per Los werden immer zur Hälfte Frauen ausgewählt. Menschen mit Migrationshintergrund und junge Leute unter 25 werden ebenfalls entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil einbezogen. Ein ähnliches Verfahren gab es schon in der attischen Demokratie. In den letzten Jahren wurde es erfolgreich in vielen Ländern wiederbelebt. Im katholischen Irland führte es zur gesetzlichen Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs und zur gesetzlichen Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe.

taz: Der Soziologe Steffen Mau hat Bürgerräte für Ostdeutschland vorgeschlagen, um dort die politische Partizipation zu erhöhen. Eine gute Idee?

Erler: Ja. Viele Leute in der Mitte haben Ängste, sind aber noch nicht in populistischen Diskursen und Gefühlen gefangen. Bürgerräte bringen Leute zusammen, die verlernt oder nicht gelernt haben, miteinander über einen Gegenstand strittig zu debattieren oder auch zum Konsens zu kommen. Und das vor dem Hintergrund, dass Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Verbände – diese ganzen gesellschaftlichen Vermittlungsinstitutionen – für viele Leute nicht mehr wichtig und nicht mehr attraktiv sind und sie sich ohnmächtig fühlen. In einem Bürgerrat erleben sie sich selbst neu, als echte Gesprächspartner von Politik und Verwaltung. Dabei lernen sie auch, die Regeln der Demokratie zu schätzen oder wieder zu schätzen.

taz: Ist das für die institutionalisierte Politik nicht eher störend?

Erler: Bürgerräte sind auch ein Mittel, damit Verwaltung und Politik lernen, mit den Menschen umzugehen und zu erkennen, dass in ihnen nicht nur Wut und Aggression steckt, sondern auch Vernunft und gute Ideen. Bürgerräte sind ein Wechselspiel zwischen Bürgern und Bürgerinnen untereinander und zwischen ihnen und den sogenannten Eliten, also Funktions- und Mandatsträgern. Die Politik fürchtet sich zu Beginn oft vor diesem Format, lernt es aber in der Praxis meist sehr zu schätzen. Denn es ist eine echte Alternative zu den heute üblichen unflätigen Konfrontationen.

taz: Gerade im Osten wären jede Menge AfD-Wähler in so einem Rat, wenn die Breite der Gesellschaft abgebildet würde.

Erler: Selbst wenn es hypothetisch überall 40 Prozent wären, gäbe es immer noch 60 Prozent andere. Und in der Regel gelingt es Leuten mit emotionalen, vorurteilsgeprägten oder gar hasserfüllten Positionen nicht, sich in einem Bürgerrat durchzu­setzen. Das sind ernsthafte und respektvolle Diskussionen. Es wird nicht geschrien, die Leute hören einander zu und lassen einander ausreden. Der ganze emotionale Klamauk fällt weg. Und vor allem: Das Ziel eines Bürgerrats sind konstruktive Lösungsvorschläge, und die sind nicht die Stärke der AfD.

taz: Die Skeptiker sagen, dass trotz des Zufallsprinzips letztlich nur diejenigen kommen, die sich ohnehin schon engagieren. Es gibt keinen Zwang. Die anderen bleiben schön zu Hause.

Erler: Das ist definitiv falsch. Ja, es ist freiwillig. Wir brauchen um die 30 bis 40 Bürger, und auf das erste Anschreiben antworten in der Regel auch nur zwischen 4 und 10 Prozent. Man muss also sehr viel mehr Leute anschreiben. Aber am Ende ist der Rat immer sehr gemischt. Und vor allem: Er ist sozial ganz anders zusammengesetzt als eine Parteiversammlung oder eine normale Bürgerversammlung. Wir haben die Krankenschwester, den Dachdecker und die Fabrikarbeiterin. Viele Teilnehmende stehen der Politik im Allgemeinen sehr skeptisch gegenüber.

taz: Haben die denn eine Chance gegen die Profis?

Erler: Sie werden mit Experten, aber auch mit Politikern und Verwaltungsleuten, mit Bürgermeistern und Regierungsmitgliedern konfrontiert. Die hören ihnen ernsthaft zu und verpflichten sich, die Empfehlungen ernsthaft zu prüfen. Bürgerräte sollten deshalb von einem Parlament oder einer Regierung beziehungsweise Verwaltung beauftragt werden, sonst laufen sie ins Leere.

taz: Am Ende eines Bürgerrats entstehen aber nur Empfehlungen.

Erler: Was ein Bürgerrat er­arbeitet, wird nicht immer eins zu eins umgesetzt. Es ist nicht rechtsverbindlich und es kann auch dauern. Aber die Idee, dass da nichts umgesetzt wird, ist falsch. Ein Beispiel: Bürgerräte – das haben wir in Hunderten von Verfahren gesehen – kommen bei der Planung von Infrastruktur in der Regel zu machbaren Ergebnissen, die sich an der Umsetzung und nicht an der Verhinderung von Großprojekten orientieren.

taz: Verhindern kann man also nicht?

F: F.Bungert/picture alliance

Gisela Erler, 78, Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg (2011–2021), Unternehmerin (pme Familienservice GmbH), Verlagsgründerin (Trikont, Frauenoffensive), Verfasserin des „Müttermanifests“ 1985, Familienforscherin, Öko­libertäre, 1967 Aktivistin im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Ihr Buch „Demokratie in stürmischen Zeiten. Für eine Politik des Gehörtwerdens“ erschien 2024 im Herder Verlag.

Erler: Wenn ich etwas verhindern will, muss ich politisch mobilisieren und demonstrieren. Das kann nötig und richtig sein. Mit Bürgerräten kann ich geplante Projekte aber sehr wohl in der Größe und der­ ­Qualität verändern und beeinflussen. Bei Volksentscheiden geht es nur ums Ja oder Nein. Bei Bürgerräten kommen in der Regel differenzierte Positionen raus – größer, kleiner, anders, umweltfreundlicher. Das kann man erreichen, und es ist nicht trivial. Bürgerräte nehmen oft Kompromisse vorweg, die die Politik ohnehin finden muss, und erleichtern ihr diesen Schritt.

taz: Langfristige nationale Zukunftspolitik bei den großen oder umstrittensten Fragen: Klima-, Einwanderungs-, Geschlechterpolitik. Ginge das auch?

Erler: Es gibt große Themen, die mitten in einem Kulturkampf stecken, die man gerade deshalb in Bürgerräten diskutieren sollte. In Frankreich gab es einen­ sehr erfolgreichen Bürgerrat zur Sterbehilfe. Die Bevölkerung wollte die Sterbehilfe, viele Vertreter der konservativen Parteien und teilweise auch der Grünen wollten sie nicht. Der Bürgerrat hat dort ein Modell gefunden, in dem die Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen zulässig ist. Dieses Ergebnis ist typisch für Bürgerräte. Die Abtreibungsfrage, das Selbstbestimmungsgesetz zur Geschlechteridentität, das Ehegattensplitting: das könnte hier alles auch in Bürgerräten verhandelt werden. Die Politik ist da aber noch zu ängstlich. Das gilt auch für den Bundestag. Meine These lautet: Bürgerräte sind wie eine Energiewende in der Politik.

taz: Wie meinen Sie das?

Erler: Vor 70 Jahren konnte man mit Solarzellen gerade mal ein Telefon in der Wüste betreiben. Heute hat sich die Solarenergie spektakulär ausgeweitet. Bürgerräte kommen seit zehn, zwölf Jahren weltweit zum Einsatz und nehmen eine ähnliche Entwicklung. Sie machen die bisher ungenutzte politische Energie vieler Menschen für die Demokratie nutzbar.