Haltungen zur Ukraine: Krieg in den Köpfen
Ein offener Brief ist nichts anderes als eine Denkanregung. Auf diese allergisch zu reagieren, disqualifiziert diejenigen, die nicht denken wollen.
V or einigen Wochen erschien in Foreign Affairs ein langer Essay von Barry R. Posen, Professor für Politikwissenschaft am MIT. Mit präziser Ausführlichkeit diskutiert Posen mögliche Alternativen der Kriegsentwicklung in der Ukraine und gelangt zu dem Ergebnis, dass es mittelfristig keine andere Lösung geben wird als diplomatische Bemühungen und Friedensverhandlungen. Ein vernünftiger, abgeklärter, genau argumentierender Text. In der Folge meldeten sich verschiedene Stimmen zu Wort und diskutierten mit unterschiedlicher Einschätzung die vorgebrachten Argumente.
Ein kleines Wunder, zieht man die jüngsten medialen Erfahrungen in Deutschland zum Vergleich heran. Als am 30. Juni in der Zeit ein Aufruf von 21 namhaften Intellektuellen erschien (darunter auch meine Person), der mit ähnlichen Überlegungen zur selben Schlussfolgerung gelangt, folgte ein Sturm der Entrüstung, der nicht abflauen wollte. Es lohnt sich, diese Aufregung unter die Lupe zu nehmen, um zu begreifen, wie sich der öffentliche Diskurs in unserem Land verändert hat. Nicht etwa, um über den rauen Ton und die persönlichen Attacken zu jammern, denn was einem hierzulande widerfährt, ist geradezu harmlos im Vergleich zu dem, was ein kritischer Mensch in Russland zu erleiden hat. Sondern um eine Reflexion darüber anzuregen, wie sehr der Krieg sich inzwischen unserer Debattenkultur bemächtigt hat.
Fast keine der unzähligen Reaktionen ging ernsthaft auf die Argumente ein. Stattdessen falsche Wiedergabe, emotionalisierte Hetze und deftige Diffamierung. Die meisten Artikel fassten den offenen Brief nicht einmal wahrheitsgemäß zusammen, sondern verfälschten ihn zu einer Karikatur. Gelegentlich wurde das genaue Gegenteil von dem kolportiert, was im Originaltext gefordert wird. Zum Beispiel: „Verhandlungen bedeuten nicht, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren.“ Daraus bastelten einige Kommentatoren die Behauptung, die Unterzeichnerinnen würden die Ukraine zur Kapitulation auffordern. Ein alter Freund, ein gebildeter, politisch interessierter Arzt, rief mich erschrocken an, um zu fragen, was ich da unterschrieben hätte. Ich bat ihn, das Original zu lesen, bevor wir uns weiter unterhalten. Kurz darauf rief er erneut an, noch erschrockener, denn das, was in einem seriösen Medium als vermeintlicher Inhalt dargestellt worden war, entsprach kaum den tatsächlichen Formulierungen.
Aber das reichte offenbar nicht. Oft wurde versucht, die Leserinnen auf plumpe Weise emotional zu manipulieren: Die Unterzeichnerinnen seien dafür, dass ukrainische Frauen vergewaltigt werden. Sie seien Propagandisten Putins, widerlich, sie sollten umgehend an die Front geschickt werden. Solche emotionale Hetze tarnt sich als moralische Überlegenheit. Vereinfacht könnte man sagen, wer zum Krieg eine abweichende Meinung veröffentliche, müsse ein schlechter Mensch sein.
Womit wir bei dem stumpfen Instrument der Diffamierung wären: Die Absicht des Meinungsgegners muss per se verwerflich sein. Weswegen niedere Motive unterstellt werden, die von Feigheit bis hin zu Eitelkeit reichen (z.B. es handele sich um Leute, die alles von sich geben, nur um in die Talkshows eingeladen zu werden). Polemik ist das bevorzugte Mittel derjenigen, die nicht debattieren wollen. Sie ist inhärent amoralisch. Wer polemisiert, weiß sich ohne Zweifel im Recht. Die ethische Haltung hingegen ist eine der kontinuierlichen Überprüfungen der eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse. Wem ein bestimmtes Thema existenziell wichtig ist, dem erscheint unbelehrbare Selbstsicherheit unangemessen. Wem alles daran liegt, dass ein geliebter Mensch geheilt wird, ist darauf erpicht, eine zweite, dritte Meinung einzuholen und sich über alle verfügbaren Heilmethoden zu informieren. Wer diskursive Verantwortung übernimmt, sollte sich nicht hinter der Burg des Glaubens verschanzen, sondern alle vermeintlichen Wahrheiten hinterfragen und abweichende Argumente und Meinungen würdigen.
Wer auch nur das Geringste von freien öffentlichen Diskursen versteht, der weiß, dass die Vielfalt der Ansichten die beste Voraussetzung für eine profunde und verlässliche Beurteilung ist. Wer bestimmte Meinungen per se ausschließen will (und nichts anderes beabsichtigt die Diffamierung), dem ist nicht an einem intelligenten Diskurs gelegen, der begehrt die Durchsetzung seiner sturen Haltung. Und damit sind wir wieder beim Krieg, denn dieser engt das Denken ein, bis hin zu jener unversöhnlichen Eintönigkeit: Entweder bist du für uns oder gegen uns. Wie ist es also möglich, dass Menschen, die vorgeben, eine moralisch richtige Politik zu vertreten, nicht begreifen, wie gefährlich jegliches Begrenzen der Denkräume ist? Erst recht in Zeiten, in denen kriegerischer Pathos und nationalistischer Eifer zunehmen.
Ein kritischer Geist hat die Aufgabe, über die Niederungen gegenwärtiger Zwänge hinauszublicken, den Horizont zu erweitern. Was werden die Folgen von zunehmender Militarisierung sein? Mehr Frieden oder die gewalttätige Verteidigung der eigenen Interessen, wenn in Zukunft aufgrund ökologischer Krisen der Eigennutz mit altbekannten rhetorischen Tricks als Selbstverteidigung verkauft werden wird. Nationalismus und Militarismus sind Formen partieller Blindheit und diese wiederum eine entscheidende Voraussetzung für Gewalt.
Am frappierendsten ist jedoch die gedankliche Umkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse. Viele Artikel lesen sich, als müssten sie gegen einen mächtigen Feind ankämpfen. Das ist realitätsfern. Wenn Intellektuelle einen öffentlichen Brief verfassen, tun sie das, weil sie keine andere Einflussmöglichkeit haben als ihr ehrliches Wort. Sie entscheiden ja nichts, sie halten kein wichtiges Amt inne. Ein offener Brief ist nichts anderes als eine Denkanregung; und auf diese allergisch zu reagieren, disqualifiziert nur diejenigen, die nicht denken wollen.
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