Rücktritt von Familienministerin Spiegel: Ehemänner und Kinder unerwünscht

Weiterhin ringen Frauen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Fall Anne Spiegel wirft ein neues Licht auf ein altes Problem.

Der Bundestag in Berlin bei Nacht, hell erleuchtet

Familienfreie Zone: Gatte krank, Baby schreit? Aber bitte nicht im Bundestag! Foto: Stefan Boness

Der 18. Punkt auf der Tagesordnung des Bundestags am 17. März dieses Jahres lautet: „Fristenballung bei steuerberatenden Berufen“ und ist für 22:35 Uhr angesetzt. Katharina Beck, finanzpolitische Sprecherin der Grünen, sitzt im Plenum. Beck, die kurz vor der Bundestagswahl ihr erstes Kind bekam, ist seit Herbst nicht nur Mutter, sondern auch Abgeordnete. Ihre Anwesenheit im Parlament muss immer wieder neu organisiert werden, sagt sie. „Vielleicht muss man einfach akzeptieren, dass dieser Job nicht familienfreundlich ist.“

Anne Spiegel hatte sich im Juli 2021 entschieden, nicht vor Ort zu sein. Wenige Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal fuhr die damalige Grüne Umweltministerin von Rheinland-Pfalz für vier Wochen mit ihrer Familie in den Urlaub. Die Bild am Sonntag enthüllte das vor einer Woche, am Sonntagabend nahm Spiegel Stellung dazu. Die Mutter von vier Kindern führte in einer beklemmenden, sehr persönlichen und teils fahrigen Ansprache die Krankheit ihres Mannes und die durch die Pandemie belasteten Familienverhältnisse als Begründung für ihre vorübergehende Abwesenheit an. Der Urlaub sei dennoch ein Fehler gewesen.

Einen Tag nach dieser Erklärung trat sie zurück.

Katharina Beck nahm der Abgang der Familienministerin und einstigen politischen Hoffnungsträgerin emotional mit. Auf Twitter schrieb sie am Montagnachmittag: „Ist das bitter und traurig. Für alle, die wie ich Politik und Familie vereinen möchten. Mir blutet das Herz. Ich vermisse sie schon jetzt.“ Die Grünen-Spitze hatte kurz zuvor deutlich kühler reagiert: Spiegel habe mit großer Offenheit Fehler eingestanden, dafür gebühre ihr Respekt, so Grünen-Chef Omid Nouripour.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das Bild, das zurückbleibt

Führende Grüne hatten Anne Spiegel schon zuvor zum Rücktritt gedrängt. Der Urlaub war nicht der ausschlaggebende Grund – wohl aber der Umstand, dass die 41-Jährige diesen lange im Dunkeln gelassen und angegeben hatte, sie habe an Kabinettssitzungen teilgenommen. Obwohl das nicht stimmte.

Abgesehen davon kreideten die Opposition und Jour­na­lis­t:in­nen Spiegel die Auszeit mitten in einer Flutkatastrophe an: Als Ministerin hätte sie bei den Hinterbliebenen, den Verletzten sein müssen. Auch die Politikerin selbst war wohl der Meinung, in der Abwägung zweier Kata­strophen – der Naturkata­strophe im Ahrtal und der drohenden in der eigenen Familie – hätte sie Letztere hintanstellen müssen. So behauptete sie also, wider die Fakten, im Dienst gewesen zu sein. Zurück bleibt nun aber nicht das Bild einer abgebrühten Lügnerin, sondern eher das einer von Amt und Familie belasteten, überforderten Frau.

Sind politische Spitzenämter und Familie überhaupt vereinbar? Für männliche Politiker stellte sich diese Frage jahrzehntelang nicht. Da stand der Beruf selbstverständlich an erster Stelle, inklusive Nachtsitzungen und Dienstreisen, denn der Platz der Ehefrau war genauso selbstverständlich bei den Kindern zu Hause. Auch heute, da zunehmend Frauen politische Spitzenpositionen bekleiden, gilt in der Regel diese Aufgabenteilung – jetzt aber oft anders herum. Bei Außenministerin Annalena Baerbock etwa übernimmt der Ehegatte die Rolle des Hausmanns, während sie Deutschland in der Welt vertritt. Auch bei Anne Spiegel funktionierte es so, bis der Mann schwer krank wurde.

„Selber schuld“, scheinen manche nun zu denken

Einwände und Vorwürfe sind nun leicht vorzubringen: Dann hätte Spiegel beruflich eben kürzertreten, nicht Familienministerin, Spitzenkandidatin und kommissarisch Umweltministerin werden müssen. In ihrem unglücklichen Fall kamen mehrere Ereignisse zusammen: die Krankheit ihres Ehemannes, die Pandemie, der Starkregen im Ahrtal. Faktoren, die sich überlagerten und letztlich in die persönliche und politische Kata­strophe führten. Denkt man dies zu Ende, bedeutet es, dass wichtige politische Ämter am besten nur an Menschen übertragen werden sollten, die auch in Extremfällen garantiert und rund um die Uhr funktionieren.

„Es gibt Aufgaben in staatspolitischer Verantwortung, die sich mit einer familiären Belastungssituation nicht vereinbaren lassen“, meint beispielsweise Jana Schimke. Das sei weder ein Drama noch ein Skandal: „Da muss jeder für sich abwägen, ob er imstande ist, diesem Druck standzuhalten.“ Die 42-Jährige ist Mutter von zwei Kindern und sitzt seit 2013 für die CDU im Bundestag. Auch bei ihr übernimmt der Mann derweil den Haushalt und die Erziehung der Kinder.

Die Verantwortung liege vor allem bei jedem Menschen selbst: So erklärt Schimke es auch, wenn sie mit Schü­le­r:in­nen spricht. „Die Aufteilung von Aufgaben bleibt unausgewogen. Frauen fühlen sich verantwortlicher, machen mehr. Deswegen versuche ich, jungen Frauen deutlich zu machen, dass sie sich entscheiden müssen, was für sie das Richtige ist.“ Um sich als Abgeordnete mit Kindern vor Überforderung zu schützen, sei es zum einen notwendig, gut strukturiert zu arbeiten, erklärt Schimke. „Aber wir kriegen auch ein überdurchschnittliches Gehalt. Davon kann man sich auch Unterstützung kaufen“, so die Christdemokratin.

Auch die Grüne Katharina Beck und ihr Mann stimmen sich ab und haben private Unterstützung organisiert. Sie frage sich dennoch, ob es richtig sei, das Vereinbarkeitsproblem auf diese Weise zu individualisieren, sagt Beck.

„Physische Präsenz ist nicht die einzige Voraussetzung für verantwortungs­vol-les Handeln“, sagt die Grüne Katharina Beck – und fordert mehr Verständnis für moderne Arbeitsformen

Ihre Parteikollegin Nina Stahr, ebenfalls Bundestagsabgeordnete, außerdem Mutter von drei Kindern im Alter von zwei bis sieben Jahren, kritisiert deutlich die Arbeitskultur des Bundestages: „Obwohl wir durch Corona dazugelernt haben sollten, haben wir diese Präsenzkultur. Wir haben immer noch nicht verinnerlicht, dass es nicht darum geht, bei allem vor Ort zu sein.“ Stahr findet: „Es ist durchaus okay, dass man sich auch mal vertreten lässt.“ Etwa so wie Jacinda Ardern, die neuseeländische Premierministerin, die 2018, knapp ein Jahr nach Amtsübernahme, Mutter wurde und sich nach der Geburt für sechs Wochen als Regierungschefin vertreten ließ. Danach übernahm ihr Mann die Kinderbetreuung, Ardern arbeitet seither wieder in Vollzeit.

Wäre es auch für Anne Spiegel vertretbar gewesen, sich zehn Tage nach einer Flutkata­strophe vertreten zu lassen? Immerhin hatte sie ja einen Krisenstab eingesetzt, und für das Management der Katastrophe war nicht allein das Umweltministerium verantwortlich, sondern das gesamte Kabinett. Nein, meinen einige. Als vor 25 Jahren die Oder über ihre Ufer trat, sei der damalige brandenburgische Umweltminister Matthias Platzeck schließlich auch vor Ort gewesen und habe „gefühlt“ jeden einzelnen Sandsack persönlich abgenommen.

Katharina Beck findet, auch aus der Ferne könne gemanagt, notfalls delegiert werden. „Physische Präsenz ist doch nicht die einzige Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln.“ Sie wünsche sich mehr Verständnis dafür, wie arbeiten im 21. Jahrhundert funktioniert.

Die Grünen wollen „unfassbar familienfreundlich“ sein

Es ist bemerkenswert, dass nun kurz nacheinander zwei Grüne Spitzenpolitiker:innen, die auch Mütter sind, in den Fokus politischer Kritik geraten und sich für verschiedene Dinge rechtfertigen müssen. Erst Annalena Baer­bock wegen eines unpräzisen Lebenslaufes und eines zusammengeschusterten Buches, jetzt Anne Spiegel. Zufall? Keine Partei hat mit 60 Prozent einen so hohen Frauenanteil im Bundestag wie die Grünen, keine hat so früh und konsequent angefangen, die Geschlechterverteilung in der Gesellschaft über Quotierung in die politischen Institutionen zu übersetzen.

Als „unfassbar familienfreundlich“ nimmt Katharina Beck ihre Partei wahr. Sie selbst wurde als Hochschwangere zur Spitzenkandidatin gewählt und habe seither nur Unterstützung und Verständnis von ihren politischen Mit­strei­te­r:in­nen bekommen. Erfolgreich hätten die Grünen einen neuen Po­li­ti­ke­r:in­nen­ty­pus nach vorn gestellt, meint sie. Aber dieser neue Typus stünde eben auch unter schärferer Beobachtung, da zähle „die B-Note“ mitunter stärker als Inhalte. „Auf solche Angriffe müssen wir besser vorbereitet sein.“

Das klingt wie eine sehr vorsichtig und fein verpackte Kritik am Krisenmanagement der Grünen, das letztlich auch bei Annalena Baerbock nur mäßig funktionierte. Im Fall von Anne Spiegel schien auch die Grüne Führungsriege vorübergehend im Urlaub gewesen zu sein – niemand sprang der einstigen Hoffnungsträgerin zur Unterstützung bei. Dagegen konnten Unionsminister in der Vergangenheit trotz versenkter Mautmillionen oder Maskenskandale locker im Amt bleiben – auch deshalb, weil ihre Parteien sich breitbeinig zum Schutz vor sie stellten.

Katharina Beck hofft, dass der Fall Spiegel die Chance eröffnet, künftig ehrlicher über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sprechen. Eine solche Diskussion wäre durchaus ein Fortschritt – aber auch eine Herausforderung für die Leistungsgesellschaft, die Erfolg noch immer vorrangig in beruflichen Faktoren misst.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.