Der Philosoph hinter Putins Ideologie

Auch Feldherren haben Vordenker. Alexander Dugin ist der ideologischeGroßmeister der russischen Neuen Rechten. Er findet seine Anhänger auch im Westen

Propagandist der „Eurasischen Idee“: Alexander Dugin Foto: Heikki Saikomaa/Lehtikuva/action press

Von Micha Brumlik

Um Wladimir Putin ranken sich derzeit viele Fragen: Ist er am Ende nur ein durchgeknallter Monoman, dem es bloß noch um sein Bild in der Geschichte geht? Oder ein russischer Politiker, der andere angreift, weil er sich tatsächlich vor der Macht der Nato fürchtet? Oder vor allem ein völkischer Nationalist wie nicht wenige ost- und mitteleuropäische Politiker? Wahrscheinlich könnte hier irgendwo die Wahrheit liegen. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Putin einer ausgeklügelten politischen Theorie – vielleicht sollte man besser von „Ideologie“ sprechen – folgt.

Nur dem geringsten Teil der hiesigen Öffentlichkeit dürfte der Name eines russischen Philosophen, der an der Moskauer Lomonossow-Universität lehrt, bekannt sein. Dieser 1962 geborene politische Philosoph war von 1994 bis 1998 Vorsitzender der dann verbotenen nationalbolschewistischen Partei Russlands, aber eben auch beziehungsweise gleichwohl ein Freund von Wladimir Putin. Kein Zufall ist es, dass dieser Mann zu einem Vordenker der auch deutschen Neuen Rechten wurde: plädiert dieser Alexander Dugin doch für eine radikale Umkehr des politischen Denkens, für eine „Kehre“, weswegen er immer wieder auf den – auch hier von der Neuen Rechten hochgeschätzten – Philosophen Martin Heidegger verweist.

Tatsächlich publizierte Dugin 2011 auf Russisch das Buch „Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie“. Über Dugin hat Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden. Etwa bei Publizisten wie Jürgen Elsässer, der früher einmal Redakteur der linken Zeitschrift konkret war. Elsässer, seit 2010 Chefredakteur des rechtsextremen Monatsmagazins Compact, veröffentlichte bereits 2013 ein Interview mit Dugin. Auf die Frage Elsässers, warum er die sogenannte „Eurasische Idee“ propagiere, gab Dugin zu Protokoll: „Weil es sich dabei um ein Konzept handelt, welches den Herausforderungen Russlands und der russischen Gesellschaft begegnet. Was sind die Alternativen? Es gibt den westlich-liberalen Kosmopolitismus, doch die russische Gesellschaft wird diese Idee niemals akzeptieren. Dann gibt es den Nationalismus, der sich für das multiethnische Russland ebenfalls nicht eignet. Auch der Sozialismus eignet sich nicht als tragendes Ideal für Russland, im Prinzip hat er auch in der Vergangenheit dort nie wirklich funktioniert. Die eurasische Idee ist daher ein realistisches und idealistisches Konzept. Es ist nicht nur irgendeine romantische Idee, es ist ein technisches, geopolitisches und strategisches Konzept, welches von all jenen Russen unterstützt wird, die verantwortungsbewusst denken.“

Damit hat sich Dugin als ein herausragender Vertreter geopolitischen Denkens sowie als Vordenker eines „eurasischen – im Gegensatz zum „atlantischen“ – Kulturraums positioniert. Dem entspricht die von ihm postulierte „Vierte politische Theorie“, die nach Liberalismus, Faschismus und Kommunismus am ehesten geeignet sei, das Überleben der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung zu sichern. Dugins theoretische Gewährsleute sind neben Heidegger der französische Begründer der „Nouvelle Droite“, Alain de Benoist sowie der sehr viel weniger bekannte italienische Philosoph Julius Evola (1898–1974).

Der faschistische Theoretiker Evola vertrat – kurz gesagt – Folgendes: Nur in Rangordnungen erweist sich die Rückbindung einer Gesellschaft an die Sphäre des Heiligen. Sowie: Die Entwicklung westlicher Gesellschaften zu mehr Freiheit und Gleichheit hat sich seit Sokrates und dem Christentum als Verfallsgeschichte des Heiligen, der Ehrfurcht und der Sitten erwiesen. Gefordert sei eine „Revolte gegen die moderne Welt“, die auf dem Konzept der Rasse beruht – wobei aber „Rasse“ eine geistige, keine biologische Kategorie darstelle. Aus all dem folgt gleichwohl ein „geistiger“ Antisemitismus und Antiamerikanismus sowie die Forderung nach der esoterischen Initiation einer neuen Aristokratie.

Bei alledem tritt Dugin mit seiner Übernahme der Gedanken Evolas nicht etwa für einen völkischen Ethnopluralismus ein, sondern für ein antiliberales, autoritäres sowie neoimperiales Großraumdenken, das seiner Überzeugung nach alleine die Menschheit noch retten könne. So stellt er in seinem 2017 verfassten „Manifesto for a global revolutionary Alliance“ fest, dass die Phase des Kapitalismus an ihre natürliche Grenze gestoßen, die natürlichen Ressourcen erschöpft seien und dass der westlich-liberale, kosmopolitische Lebensstil sowie die Kälte des Internet zum Zerbrechen aller gesellschaftlichen Bindungen geführt haben – womit auch das herkömmliche Verständnis von Individualität und Individuen zerstört sei: „Nie zuvor wurde der Individualismus so verherrlicht, während gleichzeitig die Menschen auf der ganzen Welt sich in ihrem Verhalten, ihren Gewohnheiten, ihrem Aussehen, ihren Techniken und ihrem Geschmack so ähnlich waren. Im Streben nach individualistischen ‚Menschenrechten‘ hat sich die Menschheit selbst verloren. Bald wird der Mensch durch das Posthumane ersetzt: ein mutierter, geklonter Android.“

Zudem führten Globalisierung und „Global Governance“ zum Ende von Völkern und Nationen, zur angeblichen Zerstörung eines gehaltvollen Wissens zugunsten einer von den Medien erschaffenen „Realität“ sowie zum Ende eines jeden Fortschritts, der seinen Namen verdiene. Daher sei bei Weiterentwicklung der jetzigen Zustände nichts anderes als eine apokalyptische Katastrophe zu erwarten. Alle Phänomene deuten nach Dugin auf das Ende eines langen historischen Zyklus, eines Zyklus der im Geiste Evolas durch Aufstieg und Niedergang der westlichen Welt seit der Antike, spätestens seit der Renaissance gekennzeichnet sei. Am Ende dieses Zyklus, so Dugin, stehe der Selbstmord der menschlichen Gattung.

Eine Rettung sei möglich, aber nur durch eine radikale Umkehr, eine grundlegende Neubesinnung auf andere Kategorien des Denkens, durch eine Besinnung, die schließlich zur Bildung politischer Formationen führten, die den Niedergang des Westens und der USA so beschleunigen könnten, dass wenigsten deren Völker ihren Niedergang überlebten: als raumgebundene Völker ohne wechselseitigen Führungsanspruch.

Am Ende dieses Zyklus, so Dugin, stehe der Selbstmord der menschlichen Gattung

Was nicht zuletzt für den asiatischen Kontinent bedeutsam sei. Über all das hinaus ist Dugin der Theoretiker – oder man sollte besser sagen: der Ideologe – einer neuen imperialen Weltordnung, zumal in Blick auf China. Gegen das seiner Auffassung nach „unipolare“ Weltsystem nach Ende der Sowjetunion wirbt er für ein multipolares Weltsystem mit mindestens vier Pfeilern: des (nordamerikanischen) Westens, Europas, Chinas und eben Eurasiens. Konsequent übernimmt er dazu das chinesische Konzept des „Tianxia“, das so viel wie eine planetarische Gemeinschaft unter dem Himmel, aber auch – in gegebenen Grenzen – unter chinesischer Vorherrschaft bezeichnet.

Dugins Konzept läuft darauf hinaus, den asiatischen Kontinent in zwei Einflusssphären – eine im weitesten Sinne russische und eine chinesische – aufzuteilen. Fragt man mit Blick auf Asien zudem, wie Dugin die indische Union beurteilt, so sticht hervor, dass er die indische Kultur als eine dem westlichen, liberalen Modell strikt entgegengesetzte Kultur und Zivilisation ansieht. Gehe es doch Indien seit Gandhi um eine Modernisierung ohne Verwestlichung. Was das indes stark verwestlichte Japan betrifft, so votiert Dugin für engere Beziehungen zwischen Russland und Japan, mit dem möglichen Lockmittel, Japan die zu Russland gehörende nordostasiatische Inselgruppe der Kurilen zu überlassen.

Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ist es höchste Zeit, Wladimir Putin als einen Revolutionär im Geiste des rechtsextremen Dugin zu begreifen. Auf den letzten Seiten seines Buches „Eurasian Mission – An Introduction to Neo-Eurasianism“ antwortet Dugin 2014 auf die Frage nach seiner Haltung zu Wladimir Putin, dem er wegen zeitweiliger liberaler Anwandlungen durchaus kritisch gegenüber stand: „Wenn er an die Macht zurückkehrt, wird er gezwungen sein, zu seiner früheren anti-westlichen Politik zurückzukehren, weil unsere Gesellschaft von Natur aus anti-westlich ist. Russland hat eine lange Tradition der Rebellion gegen ausländische Invasoren und der Hilfe für andere, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren, und das russische Volk sieht die Welt durch diese Brille. Es wird sich nicht mit einem Herrscher zufrieden geben, der nicht im Einklang mit dieser Tradition regiert.“

Diese vor acht Jahren abgegebene Prognose hat sich mit Blick auf Putin und nun dem Krieg gegen die Ukraine bis zum heutigen Tage bewahrheitet.