Deutschlands Fehleinschätzung von Putin: Illusion und Scham

Deutschland hat Putin falsch eingeschätzt. Balten, Polen und Ukrainer lagen dagegen richtig in ihrem Sicherheitsbedürfnis. Es bleibt Hilflosigkeit.

Angela Merkel steht neben Wladimir Putin und Antnio Guterres

Putin in Berlin im Januar 2020; Deutschland hat ihn offensichtlich falsch eingeschätzt Foto: Simone Kuhlmey/imago

Wir lagen falsch. Weite Teile der politischen Linken in Deutschland hingen bis zuletzt einer Illusion an. Und nicht nur sie; im Grunde basierte auf diesem Wunschdenken auch das Regierungshandeln der letzten Jahre. Die Fehlannahme in Kurzform: Putin ist zwar ein Autokrat und sein Handeln nicht legitim, er lässt sich aber einhegen durch geduldige Gespräche, wirtschaftliche Verflechtungen und Zurückhaltung in der russischen Nachbarschaft. Die Nato-Osterweiterungen waren demnach entweder grundsätzlich ein Fehler oder durften zumindest nicht fortgeführt werden. Provoziert nicht den Kreml!

Die beschämende Erkenntnis: Das war nie der Punkt. Wladimir Putin demonstriert heute in der Ukraine einen Imperialismus ohne Skrupel. Als Reaktion auf eine gefühlte Einkreisung durch die Nato lässt sich das nicht mehr erklären. Eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands hätte tatsächlich keine Sicherheit gebracht gegen eine russische Regierung, die die Einverleibung ehemaliger Sowjetstaaten anstrebt.

Balten, Polen, Ukrainer, wegen eines vermeintlich übertriebenen Sicherheitsbedürfnisses lange als paranoid belächelt, lagen dagegen richtig. Stand jetzt war Abschreckung erfolgreicher als Angebote. Die osteuropäischen Nato-Länder haben Frieden, die Ukraine hat Krieg.

Nun wäre es gefährlich, am Tag des Kriegsbeginns im Schockzustand alle Überzeugungen abzuwerfen. In Abwesenheit einer Glaskugel war Gesprächsdiplomatie löblich und die Geschichte kennt Beispiele, in denen Entspannungspolitik Katastrophen verhindert hat. Verbohrt wäre es allerdings, angesichts der neuen Wirklichkeit die alten Gewissheiten nicht zu hinterfragen.

Vielleicht lag ausgerechnet George W. Bush richtig. Er wollte 2008 den Nato-Beitritt der Ukraine

Hätte der Westen der Ukraine nicht in der Vergangenheit zur Seite stehen müssen? Vielleicht lag ausgerechnet George W. Bush richtig, der anderswo selbst ungerechte Kriege führte. Er wollte 2008 den Nato-Beitritt der Ukraine, Deutschland hat gebremst. Dabei gab es ein Zeitfenster dafür: Russland wäre damals noch zu schwach gewesen, um den Beitritt militärisch zu verhindern. Vor einem Angriff im Jahr 2022 hätte der Nato-Schutzschirm die Ukraine dann wohl bewahrt.

Nachholen lässt sich das Versäumnis nicht. Entschiede sich der Westen jetzt dazu, der Ukraine militärisch beizustehen, würde der Krieg weit über die Region hinaus eskalieren. Atombomben auf Berlin, was für ein wahnsinniger Satz, wären ein realistisches Szenario.

Vielleicht wären auch Waffenlieferungen richtig gewesen, nicht spontan in der Krise, sondern schon nach 2014. Militärisch hätte der Westen die Ukraine zwar niemals ausreichend aufrüsten können, um das Land auf Augenhöhe mit Russland zu bringen. Mit einer anständigen Flugabwehr hätte er sie aber zumindest ausstatten können. Auslieferung, Ausbildung und Inbetriebnahme hätten Jahre gedauert. Mit genügend Vorlaufzeit wären die Kosten des Angriffs, der wie erwartet mit Luftangriffen begann, so allerdings gestiegen. Um das entscheidende Maß?

Hätte, wenn und wäre: Wir werden es nicht erfahren. In der aktuellen Situation werden Waffenlieferungen das Blatt auf jeden Fall nicht mehr wenden, es sei denn, man legt es auf einen langen und blutigen Partisanenkrieg an. Und Sanktionen, selbst wenn sie maximal verheerend ausfallen, sind zwar wichtig, um der totalen Selbstaufgabe zu entgehen. Es sollte aber auch niemand darauf bauen, dass sie den Krieg beenden. Und damit sind wir an dem Punkt, der die Scham so groß macht: Infol­ge der Fehleinschätzung stehen wir machtlos da. Verletzte aufnehmen, Hilfsgüter senden, die Grenzen offen lassen – klar, muss alles sein. Darüber hinaus bleibt aber wenig zu tun. Wir müssen die Ukraine im Stich lassen.

Vorbeugung ist jetzt nur noch für die eigene Sicherheit möglich, für Deutschland und seine direkten Partner. Dabei geht es einerseits um zivile Maßnahmen, zum Beispiel bei der Energieversorgung. Das ist noch so ein Bereich, in dem sich die Versäumnisse der Vergangenheit rächen; dass die Energiewende in Deutschland verschleppt wurde, dass Gaslieferungen vor allem aus Russland kommen und dass Gasspeicher an Gazprom verkauft wurden. Die Abhängigkeit macht uns verwundbar. Korrekturen brauchen Zeit, umso schneller müssen sie beginnen.

Bei der eigenen Sicherheit geht es aber natürlich auch um militärische Fragen, die ab jetzt unter ganz neuen Annahmen im Raum stehen. Reichen unsere Verteidigungsausgaben wirklich aus? Sollten mehr Truppen in die Nachbarländer im Osten? Müssten Schweden und Finnland nicht jetzt noch schnell in die Nato? Grundsätze geraten heute ins Wanken. Was für ein beschissener Donnerstag.

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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.

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