Bilder von der Liebigstraße 34: An der Grenze zur Pornografie

Die Polizei präsentiert der Presse die geräumte Liebig 34 als „Drecksloch“. Ein ekelerregender Verstoß gegen das Recht auf Privatsphäre.

09.10.2020, Berlin: Polizisten stehen nach der Räumung am Eingang des ehemals besetzten Hauses Liebig 34

Polizist*innen vor dem geräumten Haus in Berlin-Friedrichshain Foto: Fabian Sommer/dpa

In der Nacht vor der Räumung stand ein Polizist oben auf dem Dach des Hausprojekts Liebig 34. Breitbeinig, mit nach oben gereckten Armen posierte er offenbar für die Kameras seiner Kollegen auf den Nachbardächern. Wenige Stunden später wurden Beamte dabei beobachtet, wie sie Selfies vor dem da schon geräumten Haus machten. Klar, gerade wenn es gegen ein anarcha-queer-feministisches Projekt geht, mag es in der männlich dominierten Polizei en vogue sein, zu demonstrieren, wer den Längsten hat. Die Fotos dürften mittlerweile in den eingängigen Chatgruppen der Polizei kursieren.

An die Öffentlichkeit aber gelangten ganz andere Bilder, auch diese mit tatkräftiger Hilfe der Berliner Polizei. Deren Pressesprecher geleitete eine Truppe von Journalist*innen durch das frisch geräumte Haus. Anfangs um die Barrikaden aus Holz und Beton im Treppenhaus zu zeigen, die seine Kolleg*innn aufbrechen mussten. So weit okay, immerhin erläutert das die Schwere des gerade beendeten Einsatzes.

Doch dann durfte die Presse, teils per Livestream im Internet, teils als Fotodokument auch Küchen und Schlafräume ablichten. Pikiert berichteten später nicht nur Boulevardmedien von schmutzigem Geschirr, Essensresten in den Küchen und gammeligen Matratzen.

Ekelerregend sind die Fotos tatsächlich. Aber aus einem ganz anderen Grund. Denn hier wird ein Lebensstil ganz gezielt desavouiert. Hier wird durch die Macht der Bilder die Behauptung aufgestellt, die Liebig 34 sei tatsächlich das „Drecksloch“, als das es dank der Steilvorlage der Polizei von einschlägigen rechten Gruppen im Internet verunglimpft wird.

Nicht wegen des Spülplans geräumt

Als ob irgendjemand erwartet hätte, dass die Bewohner*innen ihr Haus besenrein und am besten noch frisch tapeziert dem Gerichtsvollzieher übergeben würden. Dass das Haus vor dem monatelang angekündigten Polizeieinsatz wesentlich wohnlicher aussah, zeigen mittlerweile ältere Bilder auf Twitter.

Doch selbst wenn es so gewesen sein sollte, dass der Einrichtungsstil in der Liebig 34 nicht den Ansprüchen von Schöner Wohnen oder dem neusten Ikea-Katalog entsprochen hat. Selbst wenn das Bad nicht wie bei den ach so sauberen Nachbarn stündlich mit ökologisch korrektem Desinfektionmitteln keimfrei gepudert wurde. Geht das irgendjemanden etwas an? Ist es die Aufgabe der Polizei, solche Bilder zuzulassen? Und vor allem: Ist das ein Grund dafür, die Menschen auf die Straße zu setzen?

Nein. Nein. Und nochmals nein. Das Haus wurde nicht geräumt, weil der Spülplan in der Gemeinschaftsküche nicht eingehalten oder die Bettwäsche keinen Persilschein hatte. Das Haus wurde nicht mal geräumt, weil es im näheren Umfeld immer wieder zu Attacken gegen Polizisten, Autos und auch andere Häuser in der Nachbarschaft gekommen ist. Es wurde geräumt, weil der Wert von Eigentum von Gesetzgebern und Richtern höher bewertet wird als das Recht auf Wohnen.

Anspruch auf Privatsphäre

Das heißt: Der Zustand im Inneren des Hauses war für den Polizeieinsatz vollkommen irrelevant. Wenn die Polizei dennoch aktiv dafür sorgt, dass Bilder aus den Wohnungen für jeden zugänglich werden, dann dient das allein der öffentlichen Erregung, auf dass sich die feine Gesellschaft in einem orgastischen Ah-Oh-Ih-Gestöhne ergötzen kann.

Mithin: Es ist an der Grenze zur Pornografie. Gefördert von der Berliner Polizei, die eigentlich wissen sollte, dass selbst frisch geräumte Vielleicht-Besetzer*innen noch einen Anspruch auf Privatsphäre haben.

Diese Bilder machen blind. Sie lenken ab vom eigentlichen Skandal: Es ist in Deutschland möglich, Menschen vor die Tür zu setzen, auch nach jahrzehntelanger Nutzung eines Hauses, einer Wohnung, wenn sie den Renditeinteressen eines Eigentümers im Wege stehen. Und das droht vielen Mieter*innen, genauso wie den „schmutzigen Chaoten“, auf die sie jetzt mit dem Finger zeigen.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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