Moshe Zimmermann über den Nahost-Krieg: „Eine Regierung von Fanatikern“
Deutschlands lasche Haltung helfe aktuell nicht weiter, sagt der Historiker Moshe Zimmermann. Er fordert vom Westen auch Kritik am Kabinett Netanjahu.
taz: Herr Zimmermann, was haben Sie seit dem 7. Oktober, dem Tag des beispiellosen Hamas-Massakers, über die israelische Gesellschaft gelernt?
Moshe Zimmermann: Dass Israels Zivilgesellschaft robust ist. Sie springt dort ein, wo die Regierung in ihrer Inkompetenz derzeit versagt. Die Zivilgesellschaft sorgt dafür, dass die Moral steht. Sie hilft den Menschen, die von dieser Katastrophe direkt betroffen sind. Und sie erklärt die Lage im Ausland – und zwar besser als die Regierung.
Wie würden Sie die Lage beschreiben?
Wenn auf israelischem Boden ein Pogrom dieses Ausmaßes stattfindet, ist man im Schockzustand. Diese Katastrophe ist einzigartig. Es gab schon vorher Terroranschläge. Die Hamas hatte ja schon früher ihre Zähne gezeigt. Aber dieses Pogrom ist präzedenzlos in der Geschichte Israels sowie in der Geschichte der Juden der vergangenen achtzig Jahre.
Auch vor dem 7. Oktober spielte die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Der Massenprotest gegen den von der Regierung geplanten Justizumbau hat die Regierung monatelang unter Druck gesetzt. Hat sich die Protestbewegung nun in Luft aufgelöst?
ist ein israelischer Historiker und emerierter Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Nein. Was ich über die Zivilgesellschaft gesagt habe, war auf die Protestbewegung bezogen. Diejenigen, die gegen die Regierung demonstriert haben, sind zum Rückgrat der Zivilgesellschaft geworden. Sie versuchen beispielsweise herauszufinden, wer sich alles als Geisel in Gaza befindet. Sie helfen den Familien der Geiseln. Das sind vor allem Initiativen derjenigen Gruppen, die an den Demonstrationen teilgenommen haben. Das sind gute Patrioten, die gegen diese Regierung demonstriert haben und die sich jetzt als gute Patrioten um die Opfer dieser Katastrophe kümmern.
Woran machen Sie das Versagen der Regierung fest?
Bevor wir mit der Regierung abrechnen, müssen wir noch einmal betonen: Die aktuelle Krise ist entstanden, weil Juden ermordet wurden. Erst dann können wir fragen: Wie hätte man das verhindern und wie hätte man nach der Tragödie besser reagieren können? Da hat die Regierung in vielerlei Hinsicht versagt.
Inwiefern?
Grundsätzlich hat man nicht energisch genug versucht, Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zu führen, um eine Regelung zu erreichen. Niemand hat in den vergangenen zehn Jahren konkret etwas für den Friedensprozess unternommen. Seit er 2014 formal am Ende war, ist nichts mehr passiert. Das ist Versagen Nummer eins. Versagen Nummer zwei ist, dass man auf den Angriff der Hamas unvorbereitet war, dass man die Hamas, eine islamistische Terrororganisation, nicht ernst genommen hat und dass man die Orte im Kernland Israel nicht beschützt hat, dass man sie vernachlässigt hat, Betonung auf Kernland, also an der Grenze zu Gaza.
Wie erklären Sie sich das?
Die Regierung hat sich in erster Linie um die jüdischen Siedlungen im Westjordanland gekümmert und nicht um den Schutz der israelischen Staatsbürger im Kernland Israel, für den der Staat gegründet wurde. Die Prioritäten der Regierung sind die falschen. Das ist eine rechtsextreme Regierung, eine Regierung von nationalistischen Fanatikern. Ihr Versagen hat sich schon vor der Katastrophe gezeigt und zeigt sich jetzt nach der Katastrophe weiter.
Die Rechte hat derzeit eine klare Antwort auf die Krise: Man muss die Hamas zerstören. Die Linke dagegen scheint realitätsfern, wenn sie in der aktuellen Situation argumentiert, es werde keinen Frieden geben ohne eine politische Lösung des Konflikts mit den Palästinensern, ohne Berücksichtigung der Rechte aller.
Wir müssen unterscheiden zwischen der Linken in Deutschland und Israel. Die Linke in Israel ist sich im Klaren darüber, dass mit der Hamas nichts anzufangen ist, mit einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, uns zu zerstören. Ob man gegen sie so vorgehen sollte wie im Moment das israelische Militär, ist eine Frage, über die man in Israel diskutiert. Aber die Hamas ist kein Partner für irgendeine Regelung. Es wäre suizidal, mit einer Organisation zu einem Arrangement zu kommen, die zum Ziel hat, die andere Seite zu vernichten.
Wird sich in Anbetracht der derzeitigen Situation überhaupt noch einmal das Ziel einer langfristigen Friedensperspektive etablieren lassen?
Das alte Ziel besteht weiter: Man muss eine Regelung finden, man muss den Friedensprozess neu starten. Allerdings ist derzeit keine Seite dazu bereit. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die Autonomiebehörde ist praktisch ausgeschaltet, und die israelische Regierung interessiert sich in erster Linie für die Siedlungen im Westjordanland.
Dennoch: Der Versuch, Frieden zu erreichen, wurde nicht ernsthaft unternommen. Das ist nicht nur Schuld der israelischen und palästinensischen Führung, es ist die Schuld der internationalen Gemeinschaft, auch der deutschen Regierung und der jetzigen deutschen Opposition. Man hat sich immer auf Floskeln beschränkt. Jetzt ist die Katastrophe da und man reagiert hysterisch – nicht nur in Israel, auch in Deutschland, Europa und Amerika.
Eine Autorin der Tageszeitung Ha’ aretz hat Bundeskanzler Olaf Scholz für seine „unbegrenzte Unterstützung“ für Israel kritisiert. Deutschland werde seiner Verantwortung nicht gerecht, weil es die Augen verschließe vor der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete und der Blockade des Gazastreifens. Teilen Sie diese Kritik?
Ich habe den Artikel der Autorin Amira Hass gelesen. Aber man muss den Vorwurf anders formulieren: Deutschland hat sich 2008 verpflichtet, Israels Sicherheit als Teil der deutschen Staatsräson zu verstehen. Wenn man das in Taten umsetzen will, muss man sich um Frieden zwischen Israelis und Palästinensern bemühen und darf nicht wegschauen. Dann muss man auch unterscheiden zwischen einer extremistischen Regierung wie der, die wir seit Beginn dieses Jahres haben, und den wahren Interessen der israelischen Bevölkerung.
Was heißt das konkret?
Der Bundeskanzler hat den Begriff „klare Kante“ benutzt (mit Blick auf Antisemitismus bei Palästinademos in Deutschland; d. Red). Klare Kante muss man auch gegen die Extremisten in der israelischen Regierung zeigen und nicht wischiwaschi darauf reagieren, dass man es mit einer Regierung zu tun hat, die gegen die Interessen des eigenen Volkes agiert.
Sie ist aber immerhin gewählt worden. Heißt das, Scholz hätte Netanjahu beispielsweise wie die US-Regierung nicht zum Besuch einladen sollen?
Konkret heißt das, dass man klar sagt, dass mit dieser Regierung nicht zusammengearbeitet wird, solange sie nicht ihre extremistischen Mitglieder loswird. Übrigens zeigen neue Umfragen, dass diese Regierung bei Wahlen abgewählt werden würde.
Sie verfolgen auch die deutschen Medien. Wie nehmen Sie den Diskurs über Israel und Gaza in Deutschland wahr?
Der Versuch, neutral zu sein, ist eine Haltung, die mir moralisch suspekt ist. Ich spreche von diesem Sowohl-als-auch, Mitleid haben mit beiden Seiten. Israel hat es mit einer Terrororganisation zu tun, die ein Verbrechen verübt hat, das zumindest in unserer Region präzedenzlos ist. Da muss man nicht nur – wie die Bundesregierung es in der Tat tut – auf der Seite Israels stehen, sondern auch alles tun, um die Geiseln zu befreien, um die Kibbuzim entlang der Gazagrenze neu aufzubauen und den Friedensprozess neu zu starten. Es hilft nicht, eine öffentliche Diskussion zu führen, die in Richtung Neutralität oder „Ausgewogenheit“ geht, weil man selbst die Auseinandersetzung mit islamistischen Kräften in Deutschland scheut.
Was genau meinen Sie mit Neutralität beziehungsweise Ausgewogenheit?
In der deutschen – und auch der internationalen – Berichterstattung wird versucht, das Leid der israelischen Opfer des Pogroms durch die Zahlen und das enorme Leid auf der anderen Seite zu relativieren. Der Tenor der Diskussion ist nicht nach meinem Geschmack. Man muss kausal denken und zwischen Ursache und Folge unterscheiden.
Sie sehen in Deutschland zu viel Empathie mit den Menschen im Gazastreifen?
Ich sehe eine Bekundung von Empathie. Ich bin mir nicht sicher, ob der wahre Beweggrund die Empathie für die Palästinenser ist oder der Wunsch, Israel einen Seitenhieb zu verpassen – und zwar der Gesellschaft, nicht der Regierung. Die Empathie könnte eine Art vorgetäuschte Taktik der Kritik an Israel sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies