Bundeskanzler Olaf Scholz zu Lützerath: „Da verläuft für mich die Grenze“

Olaf Scholz verteidigt den Lützerath-Kompromiss und wünscht sich Proteste für Windräder. Ein Gespräch über Kampfpanzer und den Spaß am schnellen Fahren.

Olaf Scholz spricht. Er sitzt an seinem Schreibtisch im Kanzleramt

Olaf Scholz beim Gespräch mit der taz im Kanzleramt, kurz vor der endgültigen Räumung von Lützerath Foto: Jens Gyarmaty

Olaf Scholz sitzt auf der Fensterbank, als er die taz im Kanzleramt zum Gespräch empfängt. Das große Bücher­regal in ­seinem Büro steht noch immer fast leer. Ein Brockhaus-­Lexikon steht drin, es ist noch von seiner Vorgängerin. Aber das Buch von Max Weber, das hat Scholz von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann geschenkt bekommen.

wochentaz: Am Wochenende demonstrieren wohl tausende Kli­maak­ti­vis­t:in­nen in Lützerath. Auch Greta Thunberg wird erwartet. Sie haben einst gegen Atomkraft protestiert. Wäre der Juso Olaf Scholz heute auch bei den Anti-Kohle-Protesten dabei?

Olaf Scholz: Na, ich will mir nicht ­anmaßen, als 64-Jähriger darüber zu spekulieren, was ich heute tun würde, wenn ich Anfang zwanzig wäre. Als Juso habe ich mich ­seinerzeit an ­Kundgebungen gegen Atomkraftwerke beteiligt. Deshalb war es für mich als frisch in den Bundestag ­gewählter ­Abgeordneter etwas Besonderes, im Jahr 2000 während der ersten rot-­grünen Koalition den Atomausstieg zu beschließen. Heute wollen wir die erneuerbaren Energien massiv ausbauen und haben den Zeitplan zum kompletten Ausstieg aus der Kohlenutzung beschlossen.

Die Ak­ti­vis­t:in­nen sagen: Mit der Erschließung der Kohle unter Lützerath verrät die Politik ihre Klimaziele.

Dieser Vorwurf trifft nicht zu. Es ist genau umgekehrt: Wir machen Politik, damit wir unsere Klimaziele erreichen. Als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist es unsere Aufgabe zu zeigen, dass Wohlstand auch in einer CO2-neutralen Welt möglich ist. Mit unseren Beschlüssen stellen wir sicher, dass wir die Klimaziele erreichen können und gleichzeitig den Wohlstand in unserem Land bewahren – anders wird es nicht funktionieren.

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Ist der Protest gegen die Räumung produktiv – oder halten Sie ihn für überflüssig?

Wie gesagt, auch ich habe früher häufiger demonstriert. Allerdings gibt es für mich eine Grenze, die genau da verläuft, wo Protest gewalttätig wird. Mit Blick auf Lützerath: Fünf andere Dörfer in der Nachbarschaft bleiben, anders als ursprünglich geplant, erhalten – das ist eine gute Nachricht. Vielleicht sollte sich der Protest eher dagegen richten, dass es sechs Jahre braucht, bis eine Windkraftanlage genehmigt wird. Wenn wir die Energiewende schaffen wollen, brauchen wir mehr Tempo.

Solche Demonstrationen wünschen Sie sich?

Ja.

Deutschland hat im vergangenen Jahr 761 Millionen Tonnen CO2 in die ­Atmosphäre geblasen – so viel wie im Jahr zuvor. Wenn man die Kohle in Lützerath verfeuert, kommen noch mal 280 Millionen Tonnen dazu.

Das ist kein ganz redliches Argument. Denn der russische Überfall auf die Ukraine und seine Folgen sind die Ursache dafür. Um den Ausfall der Gaslieferungen aus Russland auszugleichen, haben wir uns entschieden, 20 Kohlekraftwerke zu reaktivieren, um in dieser akuten Krise die Energieversorgung sicherzustellen.

Nachvollziehbar. Dennoch war 2022 kein gutes Jahr für den Klimaschutz. Wird 2023 auch ein verlorenes Jahr?

Wir haben 2022 auf die akute Energiekrise reagiert und gleichzeitig die ­Weichen gestellt für mehr Klimaschutz. Wir haben gewonnen, nicht verloren. Es ist das unbedingte Ziel meiner ­Regierung, dafür zu sorgen, dass wir bis 2045 klimaneutral werden. Das heißt, wir müssen bis 2030 rund 80 Prozent des Stroms aus Erneuer­baren ­gewinnen – bei gleichzeitig stark wachsender Stromerzeugung. Denn wir müssen die Industrie von Kohle, Öl und Gas auf Strom und Wasserstoff ­umstellen. Gleichzeitig müssen Mobilität und Heizen klimaneutral werden. Wir stehen vor der größten in­dustriellen ­Modernisierung in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts – diese Aufgabe sollte niemand unterschätzen.

Von 761 Millionen auf null Tonnen in 22 Jahren – klappt das?

Das Kanzleramt in der Dämmerung

Olaf Scholz will in Zukunft auch mal mit dem Fahrrad zur Arbeit im Kanzleramt fahren Foto: Jens Gyarmaty

Davon bin ich überzeugt. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit der Wirtschaft, dass deren Vertreterinnen und Vertreter ebenfalls davon überzeugt sind. Allerdings müssen wir jetzt die Voraussetzung dafür schaffen. Das Ziel muss sein, bald jeden Tag drei bis vier große Windkraftanlagen in Deutschland aufzustellen. Wir haben bereits viele Gesetze geändert, um den Bau von Windkraft- und Solaranlagen sowie den Ausbau der Netze zu beschleunigen.

Gleichzeitig weihen Sie am Samstag ein LNG-Terminal in Lubmin ein – für fossile Energie. Ist das kein Verrat der Klimaziele?

Im Gegenteil, wir achten darauf, dass die LNG-Terminals künftig auch für Wasserstoff genutzt werden können. Denn in absehbarer Zeit werden wir fossiles Erdgas durch sauberen Wasserstoff ersetzen, der mit Windkraft oder Solarenergie hergestellt wird. Die dafür nötige Infrastruktur für den Import von Wasserstoff entsteht durch diese Investitionen nun früher.

Kri­ti­ke­r:in­nen sagen, diese LNG-­Terminals sind überdimensioniert, die Lieferverträge sind zu langfristig und können den Wasserstoffausbau behindern.

Der Vorwurf trifft nicht zu, denn er unterschlägt, dass wir bis 2030 die Strommenge, die wir für Deutschland benötigen, um ein Drittel erhöhen müssen. Und zehn Jahre später muss sie sich noch einmal verdoppeln. All das ist nötig, damit Deutschland in 22 Jahren zum klimaneutralen Industrieland wird – die Wirtschaft muss dafür Milliardensummen investieren. Deshalb brauchen die Unternehmen die Gewissheit, dass sie jetzt mit dem nötigen Erdgas versorgt werden, um ihre Produktion sicherzustellen. Und sie damit planen können, dass künftig Wasserstoff und Strom zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung steht.

Das postfossile Deutschland wird zwei Drittel der Wasserstoffenergie importieren. Es gibt schon jetzt etwa in Chile Widerstand gegen industrielle Wasserstoffproduktion, die enorme Mengen Wasser verbraucht. Wird die schöne neue Ökowelt neokolonial? Ausbeutung dort, Reichtum hier?

So würde es nicht gehen, das ist doch klar. Viele Länder wollen bei sich Wohlstand schaffen, indem sie Wasserstoff herstellen und exportieren. Und Deutschland ist ein beliebter Handelspartner, weil wir auf umweltfreundliche Standards und faire Arbeitsbedingungen achten.

Es braucht also kein Gesetz, das verhindert, dass dreckig produzierter Wasserstoff nach Deutschland importiert wird?

ist seit Dezember 2021 der neunte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Scholz war von 2007 bis 2009 Bundesminister für Arbeit und Soziales. Von 2011 bis 2018 war er Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, bevor er als Bundesfinanzminister zurück nach Berlin wechselte.

Wir haben ein gutes Lieferketten­gesetz, das seit Jahresbeginn voll wirkt. Es nimmt die Produzenten in die Pflicht, sich an Umweltschutz- und Menschenrechtsstandards zu halten.

Werden die Atomkraftwerke im Frühjahr abgeschaltet?

Ja, definitiv.

Die FDP macht die Diskussion wieder auf. Nur heiße Luft?

Zur demokratischen Debatte gehören unterschiedliche Meinungen. Die Gesetzeslage ist eindeutig – das gilt.

Energiesparen ist ein großes Thema. Hier im Kanzleramt ist es ja relativ warm …

19 Grad.

Okay, es wird also Energie gespart. Wie ist es bei Ihnen zu Hause in Potsdam? Drehen Sie die Heizung runter?

Zu Hause beherzigen wir natürlich die Energiesparvorschläge der Bundesregierung. Die milden Temperaturen derzeit machen das etwas leichter.

Wissen Sie, wie hoch aktuell Ihre Energiekosten sind?

Nein. Als Mieter erhalte ich die Abrechnung der Nebenkosten erst in ein paar Monaten.

Menschen, die Bürgergeld bekommen, müssen ihre hohen Stromkosten selbst bezahlen. Muss das Bürgergeld erhöht werden?

Zum Jahresbeginn haben wir die Regelsätze für die Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld gerade um 53 Euro angehoben – die höchste Steigerung seit Jahren. Gleichzeitig haben wir die Preisbremsen für Wärme und Strom eingeführt, damit alle mit dieser schwierigen Situation zurechtkommen können.

Sozialverbände fordern, Stromsperren generell zu verbieten. Einverstanden?

Es muss in dieser Lage einen angemessenen Umgang mit Stromsperren geben, etwa indem Rechnungen gestundet werden. Das hat die Bundesregierung den Netzbetreibern vorgeschrieben.

Wieso kein Verbot von Stromsperren wie in der Coronazeit? In Frankreich gibt es das auch.

Die Bundesregierung hat massive Anstrengungen unternommen, um gerade jenen zu helfen, die sehr wenig Geld haben: indem wir etwa das ­Wohngeld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Einkommen massiv angehoben und das Kindergeld auf 250 Euro erhöht haben und auch den Kinderzuschlag. Wir haben Sozial­versicherungsbeiträge für Niedrig­verdiener gesenkt. Für jemanden, der um die 1.200 Euro verdient, ist das eine Ersparnis von 50 Euro pro Monat. Und von der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro profitieren sechs Millionen Beschäftigte. Die taz könnte auch titeln: Größte Einkommensverbesserung für Niedrigverdiener seit Jahrzehnten!

Ach, das sollen wir schreiben?

Das könnten Sie schreiben.

Wird es weitere staatliche Entlastungen geben?

Wir haben in den vergangenen Monaten insgesamt 300 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um Entlastung zu schaffen. Jetzt gucken wir, wie es wirkt.

Als Sie noch in Hamburg lebten, kursierte unter Ihren Ge­nos­s:in­nen der Satz: „Fahr nie mit Olaf!“ Weil Sie so gerne schnell Auto fahren. Gibt es deshalb kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen?

(lacht) Als ich noch selbst Auto gefahren bin, bin ich gerne schnell gefahren. Das will ich nicht leugnen. Allerdings: Schon in der Zeit als Bürgermeister war ich sehr viel im Dienstwagen unterwegs und wurde gefahren. Und als Bundeskanzler fahr ich gar nicht mehr selbst.

Vermissen Sie das?

Ich bin gerne Auto gefahren.

Was halten Sie als jemand, der gern schnell fährt, vom Tempolimit?

Im SPD-Programm zur Bundestageswahl, das mit meiner Stimme beschlossen wurde, stand die Forderung nach Tempo 130 auf Autobahnen. Bei Bildung der Regierung haben wir darüber in der Koalition aber keine Verständigung erzielen können.

Im Verkehrssektor wird bislang kaum CO2 eingespart. FDP-Verkehrsminister Volker Wissing betreibt quasi Arbeitsverweigerung. Können Sie da als Regierungschef einfach zusehen?

Der Vorwurf wird ihm nicht gerecht. Ich glaube, dass er eine sehr sorgfältige und intensive Arbeit leistet als Verkehrsminister und sich an die Probleme macht, die jahrelang liegen geblieben sind. Manches dauert eben.

Ach ja?

Ja, das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung. Kaum war ich in Hamburg Bürgermeister, haben wir 2011 beschlossen, die U-Bahn-Linie durch die Hafencity um eine Haltestelle bis zu den Elbbrücken zu verlängern. Die ­Strecke wurde 2019 eingeweiht, da war ich schon nicht mehr Bürgermeister. Und ich habe dafür gekämpft, eine neue U-Bahn-Linie quer durch Hamburg zu bauen. Sie wird wohl Mitte der dreißiger Jahre fertig.

Das sind ja beunruhigende Aussichten für Deutschland.

Absolut. Deshalb sagen wir ja: Wir müssen alle Infrastrukturprojekte beschleunigen, gerade wenn es um den Schienenverkehr geht. Und wir müssen die Elektrifizierung des Verkehrs vorantreiben. Der Ausbau der Ladeinfrastruktur muss viel schneller vorangehen. All das ist nötig, damit wir eine klimaneutrale Mobilität erreichen.

Wir haben 48,5 Millionen zugelassene Pkws in Deutschland. Müssen es weniger werden?

Ich halte nichts davon, das staatlich zu verordnen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen selbst entscheiden, wie sie sich fortbewegen wollen. Es geht darum, gute Angebote zu machen, damit mehr Leute das eigene Auto stehen lassen oder ganz darauf verzichten.

Fahren Sie Fahrrad?

Mitunter.

Auch in Berlin?

Als ich Finanzminister war, habe ich mich ein paarmal mit dem Rad aus Potsdam zum Ministerium aufgemacht. Ich habe auch vor, das zu wiederholen – zum Kanzleramt. Aber überwiegend werde ich natürlich im Auto gefahren.

Sie sagen, Bür­ge­r:in­nen sollen selber entscheiden. Aber müssen wir nicht auch über Verzicht sprechen?

Ich bin kein Anhänger der Verzichtserzählung. Ich bin überzeugt, dass wir es mit technologischer Modernisierung schaffen werden, CO2-neutral zu wirtschaften, das Klima und unsere Ressourcen zu schonen und unseren Wohlstand zu erhalten. Diese große Ingenieurinnen- und Ingenieursleistung muss Deutschland zustande bringen.

Wenn wir den Klimawandel und die ökologischen Herausforderungen ernst nehmen, können wir wirklich in 20 Jahren genauso viel Fleisch essen, Auto fahren und fliegen wie heute?

Lassen Sie uns kurz den Blick weiten: Wir leben in einer Welt, die um das Jahr 2050 wohl etwa zehn Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner haben wird. Und sie werden alle den Lebensstandard und den Wohlstand haben wollen, den wir in den Industrieländern seit Langem genießen. Da wird es nicht funktionieren, dass wir ihnen als Urenkel der einstigen Kolonialherren, die die Industrialisierung mit einer unglaublichen imperialistischen Unterdrückung des Restes der Welt vorangetrieben haben, dann vorrechnen, das sei zwar ein schöner Traum, aber für sie nie erreichbar.

Wir meinten keine andere Gesellschaft, sondern unsere. Wie reduzieren wir unseren ökologischen Fußabdruck?

Wir werden dieses Ziel nicht mit Verzicht oder Verboten erreichen, sondern dadurch, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen, sorgsamer mit unseren Rohstoffen umgehen und unsere Industrie so modernisieren, dass sie das Klima nicht schädigt.

Wirtschaftswachstum ohne mehr Ressourcenverbrauch hat noch nie funktioniert.

Doch, denken Sie beispielsweise an das Auto, da hat es über die Jahre große Effizienzgewinne gegeben, die allerdings oft dadurch zunichtegemacht wurden, dass die Autos größer und schneller wurden. Nun geht es darum, die Mobilität zu elektrifizieren und eine klima­freundliche Landwirtschaft zu entwickeln und umweltfreundlichere Heizungen. Bei der industriellen Produktion müssen wir noch stärker auf Recycling setzen, um die Ressourcen zu schonen. Darum muss es gehen – und nicht um ein asketisches Leben.

Geht es wirklich ohne Verzicht? Fleisch zu produzieren ist unökologisch und klimaschädlich.

Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin kein Anhänger der Volkserziehung. Politik soll den Leuten nicht vorschreiben, wie viel Fleisch sie essen. Aber in fast jedem Ernährungstipp ist zu lesen: Weniger Fleisch zu essen ist gut für die Gesundheit.

Worauf könnten Sie am ehesten verzichten?

Ich habe einen so durchgeplanten Alltag, dass ich mir diese Frage gern stellen würde.

Denken Sie nie: Ich sollte weniger Fleisch essen“?

Doch.

Hat das Konsequenzen?

Immer mal wieder.

Sie haben als Hamburger Bürgermeister nie einen Senator oder eine Senatorin gefeuert. Wird Verteidigungsministerin Christine Lambrecht das erste Kabinettsmitglied, das Sie vor die Tür setzen?

Aus meiner Hamburger Zeit können Sie erkennen, wie ich mit denen umgehe, mit denen ich zusammenarbeite. Da können sich alle auf mich verlassen.

Ist Lambrecht eine gute Verteidigungsministerin?

Ich arbeite mit allen Mitgliedern des Bundeskabinetts sehr eng und vertrauensvoll zusammen.

Am 20. Januar treffen sich die Nato-Verteidigungsminister:innen wieder in Ramstein. Polen will Kyjiw nun auch Kampfpanzer liefern. Was tut Deutschland?

Deutschland unterstützt die Ukraine finanziell, politisch, humanitär und auch mit Waffen. Wir liefern besonders wirksame Waffen: die Panzerhaubitze. Die Mehrfachraketenwerfer, die außer uns nur Großbritannien und die USA zur Verfügung stellen. Wir unterstützen die Luftverteidigung der Ukraine aktiv mit dem Flakpanzer Gepard, mit dem System Iris-T und demnächst mit Patriot-Abwehrraketen. Und wir folgen einer klaren Linie: die Ukraine nach Kräften zu unterstützen. Verhindern, dass es zu einem direkten Konflikt zwischen Nato und Russland kommt. Und keine nationalen Alleingänge, sondern enge Koordinierung mit unseren Freunden und Verbündeten, allen voran mit den USA. Die USA wollen nun den Schützenpanzer Bradley liefern, Deutschland liefert Schützenpanzer vom Typ Marder.

Kommt der Leopard-Panzer hinzu?

Wie erwähnt, treffen wir klug abgewogene und international eng koordinierte Entscheidungen. Vor wenigen Tagen haben wir beschlossen, 40 Schützenpanzer und ein Patriot-­System zu liefern.

Und Kampfpanzer?

Die vergangenen elf Monate haben gezeigt, dass es klug ist, sich nicht durch aufgeregte tägliche, ja manchmal stündliche Forderungen kirre machen zu lassen. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger findet das abgewogene Vorgehen der Regierung bei Waffenlieferungen richtig. Ich weiß, dass viele sich große Sorgen machen und hoffen, dass der Kanzler und seine Regierung die Nerven behalten. Was mich bedrückt: In der medialen Bericht­erstattung spiegelt sich das kaum wider, da scheint es ständig nur darum zu gehen, was als Nächstes geliefert werden kann. Diese Verengung der politischen Debatte ist problematisch.

Nerven behalten, heißt das – keine Kampfpanzer liefern, damit Deutschland keine Kriegspartei wird?

Die Nato ist nicht Kriegspartei und wir sind es auch nicht, und dabei muss es bleiben. Ich bin manchmal überrascht, wie leichtfertig mitunter diskutiert wird. In einer weltpolitisch so gefährlichen Situation muss man immer die Konsequenzen des eigenen Handelns im Blick behalten und sehr sorgsam abwägen. Es gibt da keine absolute Wahrheit. Führungsstärke bedeutet nicht, auf der Barrikade zu stehen und „Auf in den Kampf“ zu rufen. Führungsstärke bedeutet in dieser Situation, die eine Gefahr für den Frieden auf der ganzen Welt darstellt, die Nerven zu haben, das Richtige zu tun.

Fürchten Sie noch immer den Einsatz von russischen Atomwaffen?

Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt werden. Das ist eine zynische ­Diskussion, an der ich mich nicht beteilige.

Putin hat mehrmals mit dem Einsatz gedroht …

Ein Ergebnis meiner Peking-Reise im November war, den chinesischen Präsidenten dafür zu gewinnen, deutlich zu machen, dass es nicht zu einem Einsatz von Atomwaffen kommen darf. Das war die Grundlage dafür, dass wir uns auf dem G20-Gipfel auf Bali international auf eine ähnliche Erklärung verständigen konnten.

Hat Putin das beeindruckt?

Seitdem sind zumindest die Drohungen aus Moskau leiser geworden. Die Entschiedenheit, mit der auch Chinas Führung einen Atomwaffeneinsatz im Ukrainekrieg ablehnt, ist unübersehbar. Beim G20-Gipfel haben viele Länder aus Asien, Afrika und Südamerika die Resolution unterstützt. Es hat sich ausgezahlt, dass wir zum G7-Gipfel in Elmau auch Indien, Indonesien, Süd­afrika, Senegal und Argentinien eingeladen haben. Das war ein Zeichen der Kooperation, das es von den G7 vorher so nicht gab.

Gibt es weitere diplomatische Offensiven?

Ich werde nach Lateinamerika, nach Afrika reisen und die Beziehungen zu Indien und Indonesien weiter vertiefen. Meine Einschätzung ist: Die Welt wird sich nicht wieder bipolar aufteilen mit den Zentren USA und China, sondern multipolar entwickeln. Die aufstrebenden Nationen Asiens, die großen Länder Südamerikas und Afrikas werden an Bedeutung gewinnen. Und uns als Westen bleiben jetzt noch 20, vielleicht 30 Jahre Zeit, um zu diesen Ländern gute, partnerschaftliche Verhältnisse aufzubauen.

Welches Buch lesen Sie eigentlich gerade?

Über die Weihnachtsfeiertage habe ich Lukas Bärfuss’ „Vaters Kiste“ gelesen. Ein kleines, tolles Buch. Und Kim de l’Horizons „Blutbuch“.

Mochten Sie es?

Es hat den Deutschen Buchpreis zu Recht bekommen. Und ich habe Mohamed Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ gelesen. Ein großartiges Buch.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bundeskanzler. Oder ist Ihnen „Herr Scholz“ lieber?

Ob Olaf, Herr Scholz oder Herr Bundeskanzler, ist mir ziemlich schnurz.

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