Historiker über den Ukraine-Krieg: „Freiheit ist wichtiger als Frieden“

Warum gibt es in Ostdeutschland mehr Kritik an der Unterstützung der Ukraine als im Westen? Eine Ursache sieht Ilko-Sascha Kowalczuk im bis heute fortlebenden Antiamerikanismus der SED.

Schriftzug "Nicht unser Krieg?" an einer Hausfassade in der Eberswalder Straße in Berlin-Prenzlauer Berg.

„Nicht unser Krieg?“ steht an einer Fassade in Berlin. Das Fragezeichen hat jemand ergänzt Foto: T.Seeliger/snapshot

wochentaz: Herr Kowalczuk, auf einen Bauzaun am Tiergarten in Berlin hat jemand „Das ist nicht unser Krieg“ gesprayt. Gemeint ist der russische Angriffskrieg gegen die ­Ukraine. Dann hat jemand anderes aus dem „nicht“ ein „auch“ gemacht. Würden Menschen in Ostdeutschland die ursprüngliche Version des Satzes eher unterstützen als Menschen im Westen der Republik?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich bin mir unsicher, ob die Aussage „Das ist nicht unser Krieg“ nur im Osten mehrheitsfähig wäre. Aber es stimmt: Bei der Unterstützung der Ukraine gibt es größere Differenzen zwischen Ost und West. In den letzten 30 Jahren haben sich viele Menschen, die aus der Unfreiheit der DDR kamen, an die Freiheit gewöhnt, sie betrachten die Probleme anderer nicht mehr als ihre eigenen. Aber für mich ist dieser Krieg des russischen Regimes gegen die freie, unabhängige Ukraine auch ein Krieg, bei dem es um meine Freiheit geht. Für mich ist das auch mein Krieg.

Ihre Haltung zum Krieg teilen viele Menschen in osteuropäischen Ländern, insbesondere im Baltikum und in Polen. Nur in Ostdeutschland findet sie sich selten, trotz eines ähnlichen Erfahrungsraums. Warum?

In Deutschland wird behauptet, dass die Revolution von 1989 von einer Mehrheit getragen wurde. In Wahrheit waren es große Minderheiten, die sich engagiert haben. Im Gegensatz dazu war der Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit in Polen und den baltischen Staaten ein Kampf von Mehrheiten. Die doppelte Besatzung dieser Länder spielt hierbei eine Rolle. Nach Deutschland dagegen kam die sowjetische Armee, um Hitler zu besiegen – nicht, um Deutschland zu erobern. In der DDR gab es deshalb mit einer gewissen Berechtigung eine Befreiungserzählung. Davon zeugen heute noch viele sowjetische Denkmäler. Das sind alles Friedhöfe der Soldaten.

Wie unterscheiden sich die Erfahrungen in Osteuropa und Ostdeutschland nach 1990?

Nirgendwo war der Bruch zwischen dem Alten und dem Neuen so radikal wie in Ostdeutschland. Gleichzeitig ist nirgendwo die Gesellschaft sozial so weich abgefedert worden. Das war, politisch gesehen, gut. Der Effekt ist aber, dass sich die Freiheit wie ein Geschenk anfühlt. Geschenke werden oft nicht wertgeschätzt. Der Westen dachte nach 1990 fälschlicherweise, dass sein System selbsterklärend sei, und kümmerte sich nicht darum, Millionen Erwachsenen im Osten das neue System zu erklären. Heute sehen wir die Auswirkungen davon, da ähnliche Begriffe im Osten und Westen unterschiedliche Inhalte haben.

Zum Beispiel?

Pressefreiheit. Die stand auch in der Verfassung der DDR, Artikel 27.

Spielt die besondere Verbindung zu Russland eine Rolle für die Haltung in Ostdeutschland?

Das glaube ich nicht. Bis Ende der 80er Jahre war Russenhass in der DDR weit verbreitet und das Lernen der russischen Sprache für die meisten eine Qual. Was wir jetzt erleben, ist der Antiamerikanismus der SED, der fortlebt und sich als Ablehnung des politischen Systems des Westens zeigt. Das ist viel dramatischer, als wenn die Leute sich „nur“ mit Putin und seiner Diktatur gemeinmachen würden. Diese Ablehnung der Werte des Westens – wie soll man das auffangen?

Eine antiwestliche Haltung gibt es auch unter westdeutschen Linken, sichtbar in der Schwarzer-Wagenknecht-Verbindung. Sollten wir also gar nicht so sehr über eine spezifisch ostdeutsche Erfahrung sprechen?

Alle Befragungen zeigen, dass es eine signifikant stärkere Präferenz für die Haltung der Schwarzer-Wagenknecht-Fraktion im Osten gibt. Aber generell ist es so, dass in jedem politischen System etwa 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft nicht erreichbar sind – egal, ob das eine Monarchie ist, eine Diktatur oder eine freiheitliche Demokratie. Aber die Repräsentation von Minderheiten und Mehrheiten hat sich massiv verändert. Diejenigen, die früher nur im Dorfkrug saßen, vernetzen sich mittlerweile global und werden so eine politisch relevante Kraft. Wir haben noch keinen Weg gefunden, um damit umzugehen.

Die Menschen, die sich Frieden wünschen, sind aber nicht alle antiwestlich. Sie wünschen sich Frieden. Ist das nicht legitim?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ja, das ist legitim. Aber reden wir alle über dasselbe, wenn wir über Frieden reden? Die Schwarzer-Wagenknecht-Fraktion glaubt, dass Frieden eintritt, wenn die Waffen schweigen. Aber ein ungerechter Frieden führt zu neuen Krisen. Das ist gerade in der Ukraine mit der Vorgeschichte seit 2014 offenkundig. Einige lehnen Waffenlieferungen ab aus Angst, dass der Krieg sich ausweitet und sie selbst betrifft. Dieses Aussprechen von Ängsten finde ich löblich. Doch die Mehrheit sagt „Ja, aber“ und beschuldigt die USA. Das hat wenig mit dem konkreten Krieg zu tun. Für mich ist Frieden ohne Freiheit und Unabhängigkeit kein Frieden. In der DDR gab es auch keinen Frieden, sondern beständigen Krieg gegen die Gesellschaft – manifestiert etwa durch die Mauer.

Auf einer der Friedensdemonstra­tionen sagte eine Person, dass es letztlich besser sei, in einer Diktatur zu leben, statt für eine Demokratie zu sterben.

Nur jemand, der nicht in einer Diktatur gelebt hat, kann einen solchen Satz formulieren. Die DDR war das größte Freiluftgefängnis in Europa nach 1945. Viele Menschen haben die Diktatur jedoch nicht als Unfreiheit wahrgenommen, ähnlich wie aktuell in Russland oder China. Menschen wiederum, die in Demokratie und Freiheit leben, können sich nicht vorstellen, dass es etwas Wichtigeres gibt als Frieden. Aber Freiheit ist wichtiger als Frieden.

Wie definieren Sie Freiheit?

Freiheit ist dem Philosophen John Locke zufolge die Abwesenheit von staatlicher Willkür. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs wiederum folgert, Freiheit bedeute, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Da kommen wir zu dem Toleranzparadoxon eines dritten Denkers, Karl R. Popper: Jede Freiheit hat Grenzen, genau dann, wenn Menschen versuchen, die Freiheit anderer zu begrenzen – den Intoleranten müssen Grenzen gesetzt werden. Mit der AfD in den Parlamenten müssen wir uns unentwegt mit dieser Frage auseinandersetzen. Wir wissen alle, dass diese Menschen die Freiheit und die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland überwinden wollen. Dabei sind diejenigen, die antifreiheitlich agieren, immer im Vorteil, weil sie skrupelloser sein können.

ist Historiker. Kowalczuk wurde 1967 in der DDR geboren. Dort absolvierte er eine Ausbildung zum Baufach­arbeiter. Nach dem Fall der Mauer studierte er Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Eine Regierungskommission, der Sie angehörten, hat im Jahr 2020 ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Transformation“ vorgeschlagen. Es soll in Halle entstehen. Welche Rolle spielt das Zentrum bei der Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Perspektive auf Demokratie?

Dieses Zentrum soll nicht die ach so geschundene ostdeutsche Seele streicheln, sondern möglichst breit diskutieren, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Dafür müssen wir schauen, welche historischen Rucksäcke wir mitnehmen auf diesen Weg in die Zukunft. Wir müssen schauen: Warum gab es eine Revolution gegen die kommunistische Diktatur? Dafür müssen wir früher als 1985 anfangen, also vor Gorbatschow. Und dann müssen wir Ostdeutschland stärker in den osteuropäischen Zusammenhängen sehen. Diese Verflechtung muss das Zentrum be­tonen.

Sie sagen, dass Ostdeutsche sich mit Osteuropa vergleichen sollten, um zu sehen, was erreicht wurde. Aber Menschen vergleichen sich meist mit denen, die mehr haben als sie.

Sie haben recht. Wahrscheinlich ist das Kind mit der Kohl’schen Politik in den Brunnen gefallen. Helmut Kohl hat ­gesagt: Euch wird es nicht schlechter gehen als uns. Diesen Vergleichs­maßstab hat die bundesdeutsche ­Politik selbst gesetzt. Hätten sie eine andere Chance gehabt? Höchstwahrscheinlich nicht. Alle schauten nach Westen, die Leute in Frankfurt am Main schauten nach Westen, und die Leute in Frankfurt an der Oder schauten nach Westen. Es wäre vernünftiger und weniger frustrierend gewesen, Ostdeutschland mit ­Osteuropa zu vergleichen, um realistische Maßstäbe zu haben. Sie kennen bestimmt diese ­Vorher-­nachher-­Bilder. Die Stralsunder Altstadt 1985 und heute. Oder wie gut Halberstadt jetzt aussieht! Das beeindruckt jeden.

Ein taz-Leser hat vorgeschlagen, Bürgerräte in Ostdeutschland ein­zuführen, die darüber diskutieren könnten, wie die Zukunft aussehen soll.

Das finde ich gut, ich würde allerdings sagen: in ganz Deutschland, in ganz Europa! Eine andere Idee wäre, ein Versäumnis des Einheitsprozesses nachzuholen: Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu füllen. Darin heißt es, dass es dieses Grundgesetz so lange geben wird, bis sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine eigene Verfassung gegeben hat. Es würde sich lohnen, einen verfassungsgebenden Prozess zu initiieren, wo es um die Frage geht, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

Eine alte Forderung der Bürgerrechtsbewegung. Was versprechen Sie sich davon?

Wir sind als Demokraten und freiheitsliebende Menschen oft in der Defensive, weil wir gar nicht mehr wissen, ob wir wirklich noch in der Mehrheit sind. So ein diskursiver Prozess würde uns alle stärken, weil wir – glaube ich – feststellen würden: Jawohl, wir haben immer noch eine veritable Mehrheit, und wir können uns darauf verstän­digen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Und dann können wir diesen ganzen anderen Arschlöchern endlich mal den Stinkefinger zeigen.

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