Harald Welzers Auftritt bei „Anne Will“: Ganz präsente Arroganz
Es ist in einem demokratischen Diskurs wichtig, den Russlandkurs der Nato zu kritisieren. Doch Haralds Welzers Versuch ging voll nach hinten los.
Es war sicher nicht so geplant. Aber mit seinem Auftritt bei „Anne Will“ am Sonntagabend hat der Soziologe Harald Welzer dem Wunsch der Ukraine nach immer noch mehr deutschen Waffen einen großen Dienst erwiesen. Nicht, weil er mit seinem Plädoyer für Vorsicht einen der heftigsten Shitstorms seit Kriegsbeginn entfachte. Auf wütende Empörung stoßen zurzeit viele, die den Nato-Kurs gegen Russland kritisch hinterfragen. Es ist in einem demokratischen Diskurs richtig und wichtig, dass es einige Prominente trotzdem wagen. Doch Welzers Versuch ging leider voll nach hinten los.
Diesmal waren es keineswegs nur die üblichen FürsprecherInnen einer unbegrenzten Aufrüstung der Ukraine und radikalen Schwächung Russlands, die widersprachen und Welzer teilweise unfair niedermachten. Auch viele, die in der Waffendebatte hin- und hergerissen sind, rieben sich die Augen, weil der sonst so kluge Analytiker vollkommen einseitig, deutschzentriert und wenig empathisch gegenüber dem Aggressionsopfer Ukraine wirkte. Wie in dem offenen Brief, den er vor einer Woche mit Alice Schwarzer und anderen versandte, redete Welzer nur sehr wenig über die Toten in dem angegriffenen Land, aber sehr viel über die Gefühle der Deutschen und die möglichen Gefahren einer weiteren Eskalation für Deutschland.
Wegen dieser eingeschränkten Perspektive kam es zu einer Premiere im deutschen Fernsehen: Zum ersten Mal in all den Kriegsdebatten wirkte der ebenfalls anwesende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk geradezu sympathisch höflich und dezent im Vergleich zu einem Kontrahenten. Das muss man erst mal schaffen.
Welzer gelang dieses Kunststück vor allem deshalb, weil er im Streit mit Melnyk zur Begründung für seine Vorsichtsmahnung im aktuellen Konflikt mit Russland vor allem auf die angebliche Expertise der historisch bewanderten Deutschen verwies. „Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen durchgezogen hat“, erklärte Welzer dem ukrainischen Botschafter und mutmaßte über die Motive von 45 Prozent der Deutschen, die eine Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine ablehnen, bei vielen von ihnen gebe es „eine ganz präsente Kriegserfahrung in den Familien selber“. Dass Welzer kein Patentrezept für eine friedliche Lösung des Ukrainekriegs vorlegte, sollte man ihm nicht vorwerfen. Das haben die BefürworterInnen der Waffenlieferungen auch nicht.
Er macht sich angreifbar
Aber ganz präsente Kriegserfahrung? Als Argument eines Deutschen im Gespräch mit einem Ukrainer? Es kann nur zynisch klingen, wenn ein Nachfahre der Aggressoren im Zweiten Weltkrieg ausgerechnet gegenüber dem Vertreter des aktuellen Angriffsopfers besseres Wissen über die Lehren aus der Geschichte reklamiert. Sicher ohne es zu wollen und ohne es zu selbst zu merken, verschaffte Welzer Melnyk damit eine eindeutig überlegene Sprecherposition. Denn wer im Moment über eine ganz präsente Kriegserfahrung verfügt und wer nicht, ist sonnenklar. Deshalb fiel auch die Replik auf Melnyk, „das ist doch borniert“, auf Welzer selbst zurück.
Mag sein, dass der unbestreitbar kundige Soziologe und Herausgeber des Magazins taz futurzwei das Mitgefühl mit der bedrohten Ukraine und den Respekt für ihr Selbstbestimmungsrecht für so selbstverständlich hält, dass er es in einem rhetorischen Wettstreit nicht angemessen oft erwähnt. Doch wer sich vor einem Millionenpublikum derart auf sich selbst und seine eigenen Sorgen konzentriert, macht sich angreifbar und schadet dem eigenen Anliegen. Das ist schade.
Es gibt ja durchaus gute Argumente für Vorsicht im Konflikt mit einer unberechenbaren Atommacht. Für Streit über den Kriegskurs muss in einer Demokratie immer Raum sein, genau das unterscheidet Deutschland ja von einer Diktatur wie Russland. Hoffentlich bleiben Welzer und die anderen Briefschreiber deshalb auch künftig laut und kritisch. Aber bitte mit mehr Respekt für die ganz präsente Kriegserfahrung der Ukraine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative