Grünen-Parteitag und Migrationspolitik: Regierungsfähigkeit contra Moral
Die Basis stellt sich hinter die Parteispitze. Den Antrag der Grünen Jugend gegen Verschärfungen in der Migrationspolitik lehnt der Parteitag ab.
„Ich kann diese Forderung nicht einhalten“, sagte Annalena Baerbock in der Debatte. „Soll ich die Verhandlungen über Grenzsicherung meinem ungarischen Kollegen überlassen, weil ich darüber nicht mehr verhandeln darf?“ Es sei besser, mit am Tisch zu sitzen, als ihn zu verlassen, sagte die Außenministerin.
Es ist der politische Höhepunkt des Parteitags, der von der Parteiführung ganzen Einsatz verlangte. Beide Parteivorsitzenden, zwei Bundesminister, dazu die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt griffen als gesetzte Redner in die Debatte ein.
Habeck spricht von Misstrauensvotum der Basis
Robert Habeck versprach, dass die Botschaft der Grünen Jugend zu den Verschärfungen bereits angekommen sei: „Kompromisse in der Regierung haben Grenzen“. Aber der Antrag sei ein Misstrauensvotum und „die verkleidete Aufforderung: Verlasst die Regierung!“ Dem widersprach die frühere Bundesvorsitzende der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich: „Wir wollen nicht das Ende dieser Regierung. Wir wollen den Anfang einer anderen Asylpolitik.“
Am Ende stimmt der Parteitag einem Antrag zu, in dem einer der Kernsätze lautet: „Steuerung, Ordnung und Rückführung gehören zur Realität eines Einwanderungslandes wie Deutschland dazu. Es braucht legale und sichere Wege zu uns, jenseits einer menschenfeindlichen Festung Europa einerseits und unkontrollierter Grenzen andererseits.“
Während es den einen um Regierungsfähigkeit der Grünen und eine Asylpolitik in schwierigem europäischen Umfeld geht, geht es der Grünen Jugend um Moral und den Umgang mit dem einzelnen Geflüchteten. Die Jungen dominieren dank hoher Beteiligung die geloste Rednerliste. Es sei unehrlich über Ordnung zu reden, während im Mittelmeer Menschen sterben, sagt der Delegierte Vasili Franco. Und Leon Schlömer aus Köln wünscht sich: „Lasst uns die Partei sein, die nicht sagt, im großen Stil abschieben, sondern kein Mensch ist illegal“. Sie werfen der Parteispitze vor, „an den härtesten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre beteiligt zu sein.“
„Liebe zu den Menschen heißt nicht Liebe zum Koalitionspartner“
Und die Vorsitzende der Grünen Jugend, Katharina Stolla erinnert an den Slogan der Grünen: Politik aus Liebe zu den Menschen. Das heiße es, „nicht aus Liebe zum Koalitionspartner“. Die Kommunalpolitikerin Lisa Baumann aus Oberhausen sagt: „Uns belasten nicht die Geflüchteten. Es fehlt in den Kommunen einfach an Geld.“
Darauf können sich die Delegierten beider Lager einigen. Dass es heute an Wohnraum, Kita- und Schulplätzen mangelt, liegt nicht an Geflüchteten, sondern an mangelnden Investitionen der lange regierenden Großen Koalition.
Die zweieinhalb stündige Debatte wird begleitet von regem Tippen und Telefonieren der Wasserträger der Parteiführung. Mehrheiten auf Parteitagen wollen organisiert sein.
Hürden für Handelsabkommen
Was passiert, wenn das nicht geschieht, hatte die Abstimmung zum Handelsabkommen Mercosur gezeigt. Der Parteitag hatte am Nachmittag mit knapper Mehrheit einen Antrag angenommen, der von Robert Habeck und Annalena Baerbock verlangt, das Handeslabkommen zwischen 30 Staaten der EU und Südamerika neu zu verhandeln. Noch in diesem Jahr soll es verabschiedet werden. Das wird wohl nicht geschehen, wie Fachpolitiker im Hintergrund erklären. Denn tatsächlich wird es nicht vom Votum der Grünen Partei abhängen, ob der Vertrag von den Partnerstaaten unterzeichnet wird. Viel mehr hängt alles davon ab, ob er noch vor Amtsantritt des unberechenbaren neuen Präsidenten Argentiniens Javier Milei über die Bühne geht.
Beim Asyl hätte sich die Partei einen Beschluss, die ihre Ministerin in der Ampelkoalition solche Fesseln anlegt, nicht leisten können, heißt es aus der Parteiführung. Bis kurz vor der Debatte hatte die Antragskommission 130 Änderungsanträge in den Text eingearbeitet. Am Ende geht es neben dem weitgehenden Änderungsantrag der Grünen Jugend um eine Überschrift: Die Formulierung „Humanität und Ordnung“ gewinnt nur knapp vor der Überschrift: „Humanität und Menschenrechte“.
Doch vor dem Hintergrund der Erfolge populistischer Parteien und der Krise der konservativen Parteien in Europa geht es um mehr als Formulierungen in Parteitagsbeschlüssen. Katharina Stolla sagt nach der Abstimmung, es gebe ein klares Signal der Partei, dass man unzufrieden sei mit dem asylpolitischen Kurs der Ampelregierung. „Es braucht ein Ende der Scheinlösungen und endlich eine Politik, die Geflüchtete schützt.“
Und es gibt die eine rote Linie, die auch die Parteiführung in der Debatte klar definiert: Den Erhalt des individuellen Rechts auf Asyl. Dass das infrage stehen könnte, zeigt ein Beschluss der CDU Baden-Württemberg auf ihrem Landesparteitag vergangene Woche, auch anerkannte Asylbewerber nicht mehr ins Land zu lassen. Ausgerechnet jener Landesverband also, der mit Winfried Kretschmanns Grünen regiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung