Gregor Gysi über Krieg in Nahost: „Deutschland fehlt der Mumm“
Man darf Kriegsverbrechen der Hamas nicht mit Kriegsverbrechen beantworten, sagt der Linken-Politiker Gregor Gysi. Er fordert einen Waffenstillstand.
taz: Herr Gysi, Sie waren diese Woche in Israel. Was haben Sie dort gemacht?
Gregor Gysi: Wir haben einer Klinik in Israel ein Dermatom übergeben, das ist ein Instrument, um Hautverletzungen zu operieren. In dieser Klinik stammen 20 Prozent der Patienten aus dem Gazastreifen und aus der Westbank, es werden dort auch arabische und jüdische Israelis behandelt. Aber in diesem Krankenhaus macht das keinen Unterschied, da wird jede Krankheit gleich behandelt, und weil wir das gut finden, haben wir ihnen das Dermatom geschenkt. Wir, das sind in diesem Fall Professor Doktor Trabert, unser Kandidat für das Europaparlament, und ich.
Sie haben Angehörige der Geiseln getroffen. Was haben die Ihnen gesagt?
Sie möchten, dass für ihre eigene Regierung die Rettung der Geiseln im Vordergrund steht, und sie meinen, dass auch unsere Regierung noch mehr tun könnte – etwa, ihre Beziehungen zum Internationalen Roten Kreuz nutzen und über Katar vermitteln oder, was noch schwieriger ist, über den Iran. Die Außenministerin war schon drei Mal bei den Angehörigen, aber ich werde ihr dazu noch einmal einen Brief schreiben.
Fordern die Angehörigen einen Waffenstillstand?
Man muss einen Weg finden, damit die Hamas die Geiseln freigibt, und dazu gehört eine Waffenruhe, sonst geht es ja gar nicht. Der Sicherheitsrat der UNO hat einen Beschluss gefasst, der erstens den Schutz der Zivilisten im Gazastreifen und zweitens die Freilassung der Geiseln fordert. Denn Geiseln zu nehmen ist ein schweres Kriegsverbrechen, und sich hinter der Zivilbevölkerung zu verstecken, wie es der Hamas vorgeworfen wird, ebenfalls. Aber die Zivilbevölkerung zu bombardieren ist auch ein Kriegsverbrechen, und man darf Kriegsverbrechen nicht mit Kriegsverbrechen bekämpfen. Da stehe ich immer auf der Seite des Völkerrechts.
Die Lage in Gaza ist dramatisch. Südafrika hat deshalb gegen Israel Klage wegen „Völkermord“ erhoben. Was halten Sie davon?
Um einen Völkermord nachzuweisen, muss man belegen, dass das Ziel darin besteht, eine Bevölkerung letztlich auszurotten. Ich kenne den Schriftsatz nicht. Ich kann mich noch erinnern, dass der Begriff auch beim Kosovokrieg verwandt wurde. Wir sollten vermeiden, den Begriff inflationär zu benutzen. Aber hier haben wir eine andere Situation. Südafrika hat den Antrag gestellt, dann wird der Internationale Gerichtshof darüber beraten und entscheiden müssen.
Die Anklage bezieht sich auf Äußerungen von hochrangigen israelischen Politikern sowie auf die Lage in Gaza, wo Tausende Menschen getötet wurden und inzwischen Zehntausende von Hunger und Krankheiten bedroht sind.
Bisher gibt es in Gaza rund 22.000 Tote, darunter soll ein hoher Prozentsatz Kinder und Frauen sein, und das bedeutet, dass wirklich sehr, sehr viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Es heißt, in Gaza würden Zettel verteilt, damit die Zivilbevölkerung weiß, welche Gebiete sie räumen soll. Aber wo sollen sie denn hin, frage ich da? Und wie soll die humanitäre Hilfe die Menschen dort erreichen? Insofern verstehe ich den Antrag Südafrikas.
Wie kann den Menschen in Gaza geholfen werden?
Mit einem Waffenstillstand. Unabhängig davon kann die israelische Regierung Ägypten nicht dazu zwingen, seine Grenzen zu Gaza zu öffnen. Ägypten glaubt, wenn es die Menschen aufnimmt, dass Israel dafür sorgen wird, dass die nie wieder in den Gazastreifen zurückkehren können. Die Alternative wäre, dass Israel auf seinem eigenen Territorium ein temporäres Lager für die Zivilbevölkerung aufmachte, das wäre eine Geste. Die israelische Regierung sollte darüber nachdenken.
In Deutschland ist die Linkspartei immer noch die einzige Partei, die einen Waffenstillstand fordert. Warum?
Wir sind der Auffassung, dass es letztlich nur eine politische und keine militärische Lösung dieses Konflikts geben kann. Und das geht nur, wenn man auch mit dem Iran und Katar verhandelt. Was heißt denn, die Hamas zu vernichten? Jetzt wurde ein Hamas-Anführer in seiner Wohnung in Beirut in die Luft gesprengt. Ich stimme da mit Norbert Röttgen überein, der gesagt hat, entweder, wir kriegen endlich eine Lösung des Nahostkonflikts hin, oder es kommt zu einem Flächenbrand.
Letztlich wird es nicht gelingen, die Hamas oder die Hisbollah vollständig zu vernichten. Was es wirklich braucht, ist eine politische Lösung, und das kann nur eine Zweistaatenlösung sein. Ich glaube, dass jetzt zumindest ein Teil derjenigen in Israel, die bisher eher dagegen waren, gemerkt hat, dass man ein anderes Verhältnis zu Palästina finden muss.
Durch den Angriff auf den Hamas-Führer im Libanon droht der Konflikt sich auszubreiten. Wie lässt sich das verhindern?
Der Hisbollah-Chef Nasrallah soll sich dazu am Mittwoch eher vorsichtig und nicht so aggressiv wie sonst geäußert haben. Aber letztlich müssen die USA entscheiden: Wollen sie eine Lösung des Nahostkonflikts, und wollen sie Israel entsprechend unter Druck setzen? Sie nehmen ja sogar an den Regierungssitzungen in Israel teil und haben am meisten Einfluss.
Ich denke, die ganze Situation und all der Hass zeigen, wie erforderlich es ist, eine Lösung für den Konflikt zu finden. Dafür braucht man auch die UNO. Man kann sie ja kritisieren, wie Israel das macht, aber auch Israel ist auf die UNO angewiesen. Wer soll denn die humanitäre Hilfe im Gazastreifen und im Westjordanland leisten, wenn nicht die UNO? Und Israel braucht die UNO noch darüber hinaus.
Sie haben mal gesagt, China und die USA sollten gemeinsam vermitteln. Wie realistisch ist denn so ein Tandem?
China hat sich bemüht, war aber nicht besonders erfolgreich. Eine Waffenruhe, die auch die Chancen für die Befreiung der Geiseln erhöhte, wird es meines Erachtens nur auf Druck der USA geben. Ich fürchte aber, dass es im Wahlkampf zwischen Joe Biden und Trump, falls er der Kandidat der Republikaner wird, eine harte Auseinandersetzung wegen beider Kriege geben wird – also sowohl dem von Russland gegen die Ukraine als auch dem von zunächst der Hamas gegen Israel und nun von Israel gegen die Hamas.
Was kann Deutschland tun?
Natürlich kann Deutschland mehr tun, weil es eines der stärksten Länder Europas ist und Kontakte in alle Richtungen besitzt. Der Bundesregierung fehlt nur der Mumm. Das hängt natürlich auch mit der deutschen Geschichte und der Verantwortung für die furchtbaren Verbrechen des Naziregimes zusammen, für die industrielle Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden. Das prägt unser Land. Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um einer Lösung des Nahostkonflikts näher zu kommen.
Was ich nicht verstehe: Weder die israelische noch die deutsche Regierung haben der Fatah je Erfolgserlebnisse verschafft, sodass deren Ansehen im Westjordanland stark gesunken ist. Wenn man Leute braucht, die keine Raketen auf Israel abschießen, warum beschert man denen keine Erfolgserlebnisse?
Netanjahu hat die Hamas unterstützt, um die Palästinenser zu spalten.
Ja, weil er sie als Konkurrenz gegenüber der PLO und der Fatah stärken wollte. Der israelische Geheimdienst hat ja sogar mitgeholfen, die Hamas 1987 zu gründen: Da kann ich nur sagen, das ist wieder so oberschlau, wie Geheimdienste gerne sind, dreimal quer um die Ecke gedacht, und am Ende kommt bloß Mist heraus. Das ist natürlich übel.
Waren Sie auch im Westjordanland?
Diesmal nicht, die Zeit war zu knapp. Sonst war ich jedes Mal dort, und wenn ich wieder nach Israel komme, fahre ich auf jeden Fall wieder ins besetzte Westjordanland. Aber ich habe Abbas auch schon in Deutschland getroffen, zuletzt vor ein paar Jahren in Hannover. Da hat er mir erzählt, wie er von Netanjahu immer wieder hingehalten und gegen die Hamas ausgespielt wurde.
Nach dem Urteil des Obersten Gerichts, den Justizumbau zu stoppen – wie fest sitzt Netanjahu noch im Sattel?
Viele gehen davon aus, dass er bald Geschichte ist. Aber noch hat er eine Mehrheit im Parlament. Die Hoffnung ist, dass gemäßigte Leute seine Likud-Fraktion verlassen und zur Opposition wechseln. Bisher hat das nie geklappt. Aber jetzt sind die Umfragewerte für den Likud so schlecht, dass viele glauben, nicht wieder in die Knesset zu kommen. Das könnte sie zu einem Wechsel motivieren – diese Hoffnung hat ein Abgeordneter aus der Opposition mir gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ich kann das nicht beurteilen, aber ich mache da mal ein Fragezeichen.
Ein weiteres Hoffnungszeichen ist, dass das Strafgericht jetzt die Verhandlung gegen Netanjahu fortsetzt, die es nach dem 7. Oktober ausgesetzt hatte. Die Frage ist auch, wie er auf das von Ihnen genannte Urteil des Obersten Gerichts reagiert. Und es gibt das Gerücht, dass Benny Gantz bald das Kriegskabinett verlassen könnte, um wieder Opposition gegen Netanjahu zu machen.
Hat Netanjahu ein Interesse daran, den Krieg möglichst lange zu führen, damit er nicht in Frage gestellt werden kann?
Da ist etwas dran, leider. Aber er könnte sich verrechnen. Es gab schon einmal so eine Situation, da hat er die Lage eskaliert, und die Hamas schickte, wie von ihm erwartet, ein paar Raketen. Er ist damals aber trotzdem abgewählt worden. Der Druck auf Netanjahu ist diesmal besonders groß, weil viele Menschen extrem unzufrieden sind, weil sie ihm und seiner Regierung das Versagen der Armee und der Geheimdienste am 7. Oktober anlasten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge