Faeser will Grenzkontrollen ausweiten: Ein gefährlicher Domino-Effekt

Das Narrativ der Rechten, an den deutschen Außengrenzen herrsche Chaos, ist grundfalsch. Dennoch beeinflusst es die Politik – und das zum schlechtesten Zeitpunkt.

Innenministerin Nancy Faeser sitzt auf einem Podium, ein roter Lichtreflex liegt über ihrem Gesicht

Nancy Faeser will Grenzkontrollen verschärfen Foto: Michael Kappeler/dpa

Was die Ausnahme sein soll, ist schleichend zur Regel geworden: Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen, die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nun erneut ausweiten will.

Geben darf es die nur „ausnahmsweise und vorübergehend“. Davon aber kann schon lange keine Rede mehr sein: Zwischen 2006 und 2015 hatten die EU-Staaten insgesamt nur 35 Mal von diesem Instrument Gebrauch gemacht, etwa, wenn ein US-Präsident zu Besuch kam. Seit den Flüchtlingsankünften 2015 gab es EU-weit 404 solcher Ausnahmen. Mal wurden die Grenzkontrollen einige Wochen, mal 7 Monate lang durchgezogen, häufig wurden sie verlängert. 44 Mal war es Deutschland, das seit 2015 wieder kontrollieren ließ – 2023 insgesamt 43 Wochen lang, an den Grenzen zu Österreich, Polen, Tschechien und der Schweiz.

Die EU-Kommission, als Hüterin der Schengen-Verträge, wies zwar immer darauf hin, dass dies kein Dauerzustand werden dürfte. Sie nahm letztlich aber hin, dass es eben das doch wurde. Die Behauptung, die GroKo und die Ampel hätten jahrelang sträflich versäumt, die Grenzen zu „sichern“, wie es nun von den Rechten zu hören ist, ignoriert das.

Rechte und Konservative behaupten mit Vorliebe, es gebe „Chaos“ und „Kontrollverlust“, man wisse nicht, wer kommt, Terroristen und Schwerkriminelle könnten einfach hereinspazieren. Immer dann, wenn Regierungen darauf mit Grenzkontrollen reagierten, machten sie sich den Anwurf zu eigen. Wer die stets gleichen offiziellen Begründungen hört, warum nun innerhalb der EU wieder kontrolliert werden soll – wie auch jetzt jene von Faeser –, muss denken, dass es vorher eben genauso war, wie die Rechtsextremen behaupten: ein Zustand von Kontrollverlust und Rechtlosigkeit.

Erfasst werden die Menschen spätestens beim Asylantrag

Doch den gab es nicht. Offene Grenzen innerhalb der EU sind der Zustand, den das Recht vorsieht. Und wer unerkannt, weil unkontrolliert, über eine offene Grenze nach etwa Deutschland einreist, wird später natürlich trotzdem erfasst, wenn er oder sie den Asylantrag stellt – was ja in der Regel der Grund für die Einreise ist.

Nun soll verstärkt zurückgewiesen werden. Auch hier wird – absurderweise von der extremen Rechten, der konservativen Opposition UND der Regierung – so getan, als sei das etwas Neues. Dabei wurden 2022 rund 19.150 und 2023 bis Ende November rund 26.100 Menschen an den deutschen Grenzen zurückgewiesen. Es gibt drei gesetzliche Grundlagen dafür. Schutzsuchende hingegen dürfen nicht sofort zurückgewiesen werde, es sei denn, ein früherer Antrag dieser Person wurde in Deutschland bereits rechtskräftig abgelehnt.

Es gibt gute Gründe dafür, dass das so ist. Fast alle Parteien wollen nun das entsprechende EU-Recht aushebeln und auch Schutzsuchende zurückweisen. Faeser bastelt an einem „Modell für europarechtskonforme und effektive Zurückweisungen“. CDU-Chef Friedrich Merz verlangt „keine Relativierung oder irgendeine eingeschränkte Methodik“. Es soll also keiner mehr rein. Und dem Vernehmen nach will die Ampel dazu einen „Notstand“ feststellen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie damit auf EU-Ebene nicht durchkommt.

Der Zeitpunkt für solche Symbolpolitik ist schlecht

Denn die Zahl der Asylanträge in Deutschland geht stark zurück – 2024 waren es bisher rund 65.000 weniger als im selben Vorjahreszeitraum. Die Angst vor der AfD und die Bereitschaft der übrigen Parteien, sich von ihr treiben zu lassen, ist hingegen gewachsen.

Deutschland setzt damit einen gefährlichen Domino-Effekt kraftmeierischer Symbolpolitik in Gang. Bei keinem Thema ist die Zündschnur so kurz. Österreich hatte im vergangenen Jahr mehr oder weniger klag- und geräuschlos über 12.000 Zurückgewiesene aus Deutschland akzeptiert, nun, im Wahlkampf, nach dem Gepolter aus Berlin, soll damit Schluss sein. Und dann? Andere Staaten dürften sich an dem Gebaren ein Vorbild nehmen. Die Folge kann eine Kaskade von Grenzschließungen und Zurückweisungen, bis zu den Außengrenzen, sein – wo dann tatsächlich Chaos ausbricht und der Groll auf die EU-Partner weiter wächst.

Ungarns Ministerpräsident Orbán hat in der Hinsicht schon mal vorgelegt – seine Regierung will Flüchtlinge nun mit Bussen nach Brüssel schicken. Schaukelt sich die Stimmung in der EU so an der Flüchtlingsfrage weiter hoch, schwächt das die EU fraglos weiter. Die Zeit dafür könnte bekanntermaßen kaum schlechter sein.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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