Deutsche Haltung im Nahostkonflikt: Was heißt „Nie wieder“?
Aufgrund der Geschichte steht Deutschland an Israels Seite. Aus dem gleichen Grund muss es Völker- und Menschenrechte verteidigen. Ein Dilemma.
N ie wieder – darüber war sich die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und dem deutschen Völkermord an den Juden Europas einig. Aber wofür genau steht dieses „Nie wieder“? Nie wieder Krieg und Völkermord?
Das war das Motiv, das zur Gründung der Vereinten Nationen im Oktober 1945, zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und zur Verabschiedung der ersten Genfer Flüchtlingskonvention 1951 führte. Oder sollte es vor allem bedeuten, dass Jüdinnen und Juden so etwas nie wieder zustoßen dürfe? Diese Überzeugung führte zur Staatsgründung Israels 1948.
Diese beiden Vorstellungen müssen sich nicht widersprechen. Noch nie aber standen die unterschiedlichen Lesarten des „Nie wieder“ in einem so schroffen Widerspruch wie jetzt. Auf der einen Seite steht eine israelische Regierung, die nach dem schrecklichen Massaker der Hamas für sich „freie Hand“ beansprucht, um ihre Vorstellung von Sicherheit wiederherzustellen. Auf der anderen Seite stehen die Prinzipien des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, die von Menschenrechtsorganisationen und Institutionen wie der UNO verteidigt werden.
Im aktuellen Krieg in Gaza scheint die israelische Armee wenig zurückhaltend vorzugehen, und israelische Amtsträger haben mehrfach deutlich gemacht, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Schutz der Zivilbevölkerung nicht ihre höchste Priorität haben.
Israels Präsident Isaac Herzog machte die gesamte Bevölkerung von Gaza für die Taten der Hamas verantwortlich. Premier Netanjahu stilisiert den Krieg in religiöser Sprache zu einem Kampf mit dem absolut Bösen, der keine Zwischentöne zulässt. „Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari über die militärische Strategie seiner Streitkräfte.
Solchen Worten folgen Taten. Israel stoppte die Zufuhr von Wasser, Strom, Treibstoff und Medikamenten – was alle Menschen trifft, die im Gazastreifen leben, nicht nur die Hamas. Am 30. Oktober bombardierte Israels Armee das dichtbesiedelte Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens. Zur Begründung hieß es, ein Hamas-Führer wäre das Ziel gewesen.
Deutschland in der UN-Generalversammlung
Nach fünf Wochen Krieg ist die Zahl der Toten im Gazastreifen nach palästinensischen Angaben bereits auf die Rekordzahl von über 10.000 gestiegen, darunter mehr als 4.000 Kinder – mehr Kinder, als in den vergangenen vier Jahren in allen anderen Konfliktzonen der Welt zusammengerechnet umkamen, wie die Organisation Save the Children klagt.
Über 36 Journalisten wurden seit Beginn des Krieges getötet, die meisten von ihnen durch israelische Luftangriffe – so viele wie in keinem anderen Krieg der vergangenen 30 Jahre, wie das Committe to Protect Journalistst sagt. Reporter ohne Grenzen (RDF) haben sich deshalb an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gewandt. Einige Journalisten, darunter der palästinensische Reporter Mohammed Abu Hattab, kamen mitsamt ihrer gesamten Familie um. Sie waren nach israelischen Warnungen vor einem Einmarsch aus dem Norden geflohen. Doch im Gazastreifen ist keine Gegend mehr sicher.
Im Westjordanland gehen radikale Siedler im Schatten des Kriegs unterdessen immer brutaler gegen dort lebende Palästinenserinnen und Palästinenser vor. Über 160 von ihnen wurden dort in den vergangenen Wochen getötet. Auf Tiktok machten Videos von israelischen Soldaten die Runde, die palästinensische Gefangene misshandeln und demütigen.
Angesichts dieser Entwicklungen wirkt es naiv, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz beim EU-Gipfel in Brüssel behauptet, er habe keine Zweifel daran, dass die israelische Armee das Völkerrecht beachte. Und es wirkt kurzsichtig, wenn sich Außenministerin Baerbock in der UN-Generalversammlung zusammen mit den rechten Regierungen Großbritanniens und Italiens der Stimme enthält, statt mit zwei Dritteln aller Staaten, darunter den EU-Partnern Frankreich und Spanien, für eine „sofortige, nachhaltige und dauerhafte Waffenruhe“, ungehinderte humanitäre Hilfe für Gaza und die „Freilassung aller gefangenen Zivilisten“ zu stimmen. Israel, die USA und eine Handvoll weiterer Staaten votierten gegen die Resolution.
Die Bundesregierung macht sich die israelische Lesart des „Nie wieder“ zu eigen. Aber damit macht sie es sich zu einfach. Natürlich hat Israel das Recht, sich gegen den brutalen Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, dem über 1.400 seiner Bürgerinnen und Bürger auf schreckliche Weise zum Opfer fielen. Das heißt aber nicht, dass dies in der Form passieren muss, in der dies nun geschieht, zumal es damit auch das Leben israelischer Geiseln gefährdet.
Wertegeleitete Außenpolitik
Selbst US-Präsident Joe Biden warnte Israels Regierung davor, nicht die Fehler zu begehen, welche die USA nach dem 11. September gemacht hätten. Allein mit brachialer militärischer Gewalt lässt sich dieser Krieg nicht gewinnen.
Die Bundesregierung sollte sich daher an die andere, die universalistische Bedeutung des „Nie wieder“ erinnern und auf dem Völkerrecht und der Achtung der Menschenrechte beharren. Sie sollte auf Menschenrechtsorganisationen hören und die internationalen Regeln verteidigen. Und sie sollte dafür sorgen, dass der internationale Strafgerichtshof in den Haag mögliche Kriegsverbrechen verfolgt, die im Nahost-Konflikt von beiden Seiten begangen werden. Das könnte sich sowohl gegen israelische Politiker und Offiziere als auch gegen Mitglieder von Hamas und Islamischem Dschihad richten. Deutschland sollte solche Ermittlungen unterstützen.
Dass es dies bisher unterlassen hat, trägt zu einer Kultur der Straffreiheit bei, die neue Kriegsverbrechen begünstigt und Israels Sicherheit letztlich schadet. Eine wertegeleitete Außenpolitik müsste anders aussehen. Ansonsten droht das schrankenlose Recht des Stärkeren weltweit noch weiter um sich zu greifen.
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