Der bleibende Präsident: Steinmeiers soziale Kälte

Zweite Amtszeit: Der Bundespräsident wird als nett und warmherzig empfunden. Doch der Sozialdemokrat ist ein neoliberaler Machtmensch.

Gerhard Schröder und Frank Walter Steinmeier am Kabinettstisch

Voller Tatendrang gegen die Armen und für die Reichen: Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier Foto: Christian Thiel

Das gab es noch nie: Gleich zwei Experten für das Thema Obdachlosigkeit bewerben sich um das Amt des Bundespräsidenten. Beim Kandidaten der Linken, Medizinprofessor Gerhard Trabert aus Mainz, ist allgemein bekannt, dass er sich um die Ärmsten und um Flüchtlinge kümmert. Bei Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier hingegen dürften nur die wenigsten wissen, dass er 1991 über „Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ promoviert hat.

Der Unterschied zwischen den beiden Kandidaten ist allerdings, dass Trabert seinen Überzeugungen stets treu geblieben ist, während sich Steinmeier vom linken Juso zum neoliberalen Machtmenschen gewandelt hat. Diese bedingungslose Härte nehmen die meisten Bundesbürger nicht wahr, weil Steinmeier besonders rabiat agiert hat, als er im Hintergrund wirkte – von 1998 bis 2005, als er Kanzleramtschef von ­Gerhard Schröder war.

Damals hat Steinmeier die rot-grünen Steuerreformen orchestriert, die bis heute mehr als 60 Milliarden Euro jährlich kosten und von denen vor allem die Reichen profitieren. Zugleich hat Steinmeier auch die „Agenda 2010“ erfunden, die Millionen von Menschen in den Niedriglohnsektor zwingt. Es ist also höchst passend, dass nun Trabert und Steinmeier gegeneinander antreten, denn Steinmeier hat einen großen Teil jener Armut erzeugt, die Trabert anprangert.

Steinmeiers soziale Kälte war stets nur Mittel zum Zweck. Er war von keinerlei theoretischen Erkenntnissen geleitet, sondern es ging allein um Machterhalt. Binnen Tagen konnte sich die Taktik ändern – was dann Folgen für Millionen hatte. Es lohnt ein Rückblick.

Von Unionsplänen kaum zu unterscheiden

Der Aktionismus zeigte sich erstmals 1999: Mit der „größten Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik“ wollten sich Schröder und Steinmeier wieder in die Offensive bringen. Rot-Grün hatte sechs wichtige Landtagswahlen verloren, während die CDU überall triumphierte. In dieser Zwangslage wählten Schröder und Steinmeier eine riskante Taktik: Plötzlich gaben sie die Ideen der Union als das eigene Programm aus.

Die Konservativen hatten schon lange gefordert, den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer drastisch zu senken. Bisher hatte Rot-Grün derartige Reformen aber immer abgelehnt. Noch im Oktober 1999 hatte sich SPD-Finanzminister Hans Eichel über die kostspieligen Pläne der Opposition lustig gemacht: „So unseriöse Steuervorschläge mit einem Einnahmeausfall von 50 Milliarden Mark kann nur jemand machen, der genau weiß, dass sie nie Wirklichkeit werden.“

Die Öffentlichkeit war daher bass erstaunt, als die SPD nur zwei Monate später Reformen vorschlug, die von den Unionsplänen kaum zu unterscheiden und ähnlich teuer waren. Drei Tage vor Heiligabend berief Kanzler Schröder eine Pressekonferenz ein, um sein „Weihnachtsgeschenk“ zu verkünden: 73 Milliarden Mark netto wollte Rot-Grün nun an Bürger und Unternehmen verteilen.

Eine gute Begründung gab es nicht, warum die Reichen und Unternehmer so dringend entlastet werden mussten. Die deutsche Steuerlast war im internationalen Vergleich ohnehin schon niedrig. Zudem stellte sich heraus, dass Rot-Grün falsch gerechnet hatte: Die Löcher im Staatshaushalt wurden immer größer.

Der Wahlbetrug namens Agenda 2010

Also wurde eisern gespart, während eigentlich Konjunkturpakete benötigt wurden. Denn zeitgleich brach die Dotcom-Krise herein, in der sich der Spekulantentraum von der „New Economy“ auflöste. Als die nächste Bundestagswahl 2002 anstand, waren in Deutschland faktisch fünf Mil­lio­nen Menschen ohne Stelle.

Eigentlich war klar, dass Rot-Grün die Bundestagswahl 2002 verlieren würde, doch der Zufall kam zur Hilfe. Während der Elbeflut konnte sich Schröder als Krisenmanager inszenieren, der in Gummistiefeln telegen die Einsatzkräfte dirigierte. Zudem wurde über einen Krieg gegen den Irak debattiert. Schröder versicherte den Wählern, dass er für „Abenteuer“ nicht zur Verfügung stehe.

CSU-Spitzenkandidat Edmund Stoiber hingegen setzte auf Bündnistreue zu den USA, sodass Rot-Grün plötzlich als das kleinere Übel erschien, wie Transparente von empörten Bürgern deutlich machten: „Lieber mit Schröder arbeitslos als mit Stoiber im Krieg“.

Äußerst knapp reichte es erneut für Rot-Grün, doch die leidigen Probleme blieben: Die Staatskasse war leer – und die Arbeitslosigkeit hoch. Also entfachten Steinmeier und Schröder erneut wilden Aktionismus, um als Macher zu gelten. Die Bundestagswahl war nur drei Monate vorbei, da planten die beiden plötzlich Einschnitte bei den Arbeitslosen, gegen die sich das SPD-Wahlprogramm noch explizit verwahrt hatte. Dieser Wählerbetrug erhielt den Namen „Agenda 2010“ und war von einem sehr seltsamen Paradox geleitet: Ausgerechnet Armut und niedrige Löhne sollten ganz Deutschland reich machen.

Steinmeiers erfolgreiche Taktik

Jobs hat die „Agenda 2010“ übrigens auch nicht geschaffen. Bis zum Jahr 2014 gab es stets weniger Arbeit als noch zur Jahrtausendwende. Seither hat sich die Lage zwar gebessert, aber auch dieser Aufschwung ist keiner mystischen Fernwirkung von Hartz IV zu verdanken.

Stattdessen wirkte die Eurokrise auf Deutschland – zynischerweise – wie ein Konjunkturprogramm. Die Zinsen sind seither niedrig, was den Staat entlastet und Investi­tio­nen möglich macht. Zudem ist der Euro im Vergleich zum Dollar billig, sodass deutsche Waren auf den Weltmärkten günstig zu haben sind und die Exporte florieren.

Steinmeiers einstige Fehler sind keine ollen Kamellen, sondern machen bis heute die Reichen reicher und die Armen ärmer. Trabert hat recht, wenn er die soziale Spaltung beklagt. Trotzdem darf sich Steinmeier bestätigt fühlen, dass er rein taktisch richtiglag. Die meisten Wähler akzeptieren seine Politik – sonst würde er nicht im Februar zum zweiten Mal Bundespräsident.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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