Der Westen und der Ukraine-Krieg: Feuer frei?
Soll der Ukraine erlaubt werden, Ziele tief in Russland mit westlichen Raketen und Marschflugkörpern anzugreifen? Ein Pro und Contra.
J a, weil es vom Völkerrecht gedeckt ist, militärisch hilfreich wäre und solidarisches Handeln geboten ist – und weil Putin blufft.
Völkerrechtlich gibt es keine Zweifel: Als angegriffenes Land hat die Ukraine jedes Recht, sich zu verteidigen. Das beinhaltet auch das Recht, legitime militärische Ziele auf dem Territorium der angreifenden Partei, also Russlands, anzugreifen. Dafür infrage kommen aktuell die US-amerikanischen ATACMS-Raketen sowie die britischen Storm-Shadow- und die französischen Scalp-EG-Marschflugkörper. Sie haben eine Reichweite zwischen 250 und 300 Kilometern. Ursprünglich wollte Kyjiw mit diesen Waffen Luftwaffenstützpunkte auf russischem Gebiet bekämpfen. Denn von dort starten seit geraumer Zeit russische Kampfbomber, die noch vor der Grenze Raketen und Gleitbomben ausklinken, die für die verheerenden Zerstörungen in ukrainischen Städten sorgen.
Zwar hat Moskau viele dieser Stützpunkte mittlerweile weiter ins Hinterland verlegt, sodass nur noch etwa ein Zehntel der infrage kommenden Flugplätze von ATACMS-Raketen erreichbar sein sollen. Allerdings gibt es mit Kommando- und Kontrollzentren des russischen Militärs, Treibstoff- und Waffendepots sowie Truppenkonzentrationen noch genügend andere lohnende Ziele. So können Storm-Shadow-Marschflugkörper seit Monaten von ukrainischen Kampfjets abgefeuert werden und wurden auch schon erfolgreich auf der Krim und im Schwarzen Meer eingesetzt.
Während die Briten und die Franzosen bereit wären, die Freigabe für Ziele tief in Russland zu erteilen, zögern die Amerikaner noch. Washington nimmt Putins atomare Drohungen durchaus ernst und befürchtet eine „Eskalation“. Dabei dürfte ein kurzer Blick in die Geschichte der „roten Linien“ genügen, um zu erkennen, dass Putin blufft. Die Lieferung schwerer Waffen, Angriffe auf die völkerrechtswidrig annektierte Krim, zuletzt sogar ukrainische Truppen im Gebiet Kursk: Immer hatte der Westen zuvor befürchtet, damit könnte eine rote Linie überschritten werden und er laufe Gefahr, von Putin zur Kriegspartei erklärt zu werden.
Putin hatte sich auch schon mehrfach so geäußert, seinen Drohungen aber nie Taten folgen lassen. Stattdessen deutet er die Lage laufend um, zuletzt wurde aus der „existenziellen Bedrohung“ eine „schwierige Situation“ in der Oblast Kursk. Nico Lange, Sicherheits- und Verteidigungsexperte bei der Münchner Sicherheitskonferenz, schlussfolgert daraus, dass die viel beschworenen roten Linien eigentlich keine sind. Im Übrigen würde Moskau mit dem Einsatz nuklearer Waffen auch wenig, wenn gar nichts gewinnen, aber viel verlieren: vor allem die Unterstützung Pekings.
Das wiederholte Zaudern und Zögern des Westens hat die Ukraine Zeit und Opfer gekostet. ATACMS und Storm Shadow/Scalp-EG werden keine Gamechanger sein – die gibt es eh nicht. Sie werden aber die Ukraine befähigen, ihre Städte besser gegen die massiven Luftangriffe zu verteidigen und so die Zahl der Opfer zu verringern. Was als Grund schon genügen sollte.
Stefan Mahlke
Nein, weil die Gefahr einer Esklationsdynamik unkalkulierbar ist. Der Alltagsverstand bejaht zwar die Frage, ob jemand, der überfallen wird, das Recht hat, den Aggressor auf dessen Gebiet zu attackieren. Denn das entspricht einem elementaren Verständnis von Gerechtigkeit. Auch völkerrechtlich ist die Sache eindeutig: Laut Paragraf 51 der UN-Charta hat ein angegriffenes Land das Recht, sich im Rahmen des Kriegsvölkerrechts zu verteidigen. Das schließt Angriffe auf fremdes Gebiet ein, Angriffe auf zivile Ziele dort aus. Trotzdem sollten die USA und Großbritannien dem ukrainischen Militär nicht erlauben, mit westlichen Marschflugkörpern Militärflughäfen, Abschussrampen und Infrastruktur wie Raffinerien tief in Russland zu zerstören.
Denn in der Sphäre der Politik ist das Bild zwiespältiger. Dort gilt es zwischen zwei Zielen abzuwägen: der nötigen Unterstützung der Ukraine und der Gefahr einer Eskalation zu einem Krieg zwischen Nato und Moskau. Angriffe Hunderte Kilometer tief in Russland können Putins Kriegsführung erschweren. Marschflugkörper wie Storm Shadow, die mehrere Hundert Kilometer Reichweite haben, sind allerdings teuer. Die russische Seite kann sich erfahrungsgemäß auf neue Situationen einstellen. Der US-Militärhistoriker Stephen Biddle weist darauf hin, dass Präzisionswaffen wie Himars-Raketen nach anfänglichen Erfolgen an Effektivität verloren, weil sich die russischen Streitkräfte anpassten. Ein Gamechanger, der den Krieg zugunsten der Ukraine verändert, werden Angriffe tief in russischem Gebiet nicht sein.
Dieser Krieg wird kaum mit einem militärischen Sieg der Ukraine enden. Die russische Kriegswirtschaft ist stabil. Putin stehen ausreichend Soldaten und Waffen zur Verfügung, um den Krieg jahrelang fortzusetzen. Der Krieg wird mit Verhandlungen und einem kalten, brüchigen Frieden enden. Das ist bitter. Aber realistischer als der Glaube an immer neue Gamechanger.
Fassbar ist hingegen die Eskalationsdynamik des Krieges. Die USA erlaubten Kyjiw im Mai den Einsatz von US-Waffen auf russischem Gebiet, aber nur bei Charkiw, um grenznah russische Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine zu unterbinden. Später rückte ukrainisches Militär mit westlichen Waffen in Kursk auf russisches Terrain vor. Jetzt sollen westliche Waffen Ziele nahe Moskau erreichen dürfen. Was gestern noch schwer vorstellbar war, ist heute Realität. Die Logik des „immer mehr“, die Verteidigungsminister Boris Pistorius „strategische Anpassung“ nennt, ist typisch für die Dynamik von Kriegen. Wo endet sie?
Wir wissen nicht, wie ernst Putins Ankündigung zu nehmen ist, mit Angriffen auf den Westen zu antworten. Viel spricht dafür, dass dies leere Drohungen sind und Putin letztlich ein rationaler Machtpolitiker ist. Aber: Sicher ist das nicht. Wenn mehr westliche Waffen in der Nähe von Moskau einschlagen, wird das Risiko einer Kurzschlussreaktion im Kreml eher größer als kleiner. Wenn man Nutzen und möglichen Schaden abwägt, spricht mehr dafür, bei der immer weitgehenderen Verwendung westlicher Waffen ein Stoppschild zu setzen.
Stefan Reinecke
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