Der Fall Lina E.: Vorverurteilt
Lina E. soll Neonazis angegriffen haben und sitzt seit Monaten in U-Haft. Sie ist zur Galionsfigur eines vermeintlichen Terrorismus geworden.
Eine Perücke, zwei Hämmer und die Messenger-App Signal. Unter dem Hashtag #FreiheitfürLina wurden diese drei Dinge am vergangenen Wochenende zum Symbol für den Fall Lina E., sie sollen Beweise dafür sein, dass sie Teil einer „linksextremen Zelle“ ist. Der Hashtag trendete, nachdem die Zeit in einem Text die Erkenntnisse seit der Festnahme von Lina E. im November zusammenfasste.
Denn Lina E., eine 26-jährige Studentin aus Leipzig, sitzt seit fünf Monaten in Untersuchungshaft. Ihr wird vorgeworfen, an zwei Angriffen auf Neonazis im Thüringer Ort Eisenach beteiligt zu sein. Außerdem – so die Bundesanwaltschaft, die den Fall an sich gezogen hat – soll sie Teil einer „kriminellen Vereinigung“ sein. Grundlage ist der Paragraf 129, der oftmals bei der Vermutung auf einen politischen Hintergrund herangezogen wird.
Im Sommer 2020 sitzt Lina E. schon einmal in Untersuchungshaft, wird kurz darauf freigelassen. Am 5. November 2020 wird sie erneut festgenommen und per Helikopter nach Karlsruhe geflogen, wo sie dem Bundesgerichtshof vorgeführt wird. Die Unschuldsvermutung, die bei Angeklagten immer gilt, scheint für viele zu diesem Zeitpunkt schon keine Rolle mehr zu spielen.
Denn die Beschuldigte ist zur Galionsfigur eines vermeintlichen Terrorismus und angeblich florierenden „Linksextremismus“ in Leipzig geworden. Für viele Medien gilt sie bereits als linksextreme Täterin, bevor überhaupt eine Anklageschrift existiert. Lina E. ist plötzlich nicht mehr nur eine Beschuldigte in einer Strafermittlung, sondern laut einer Lokalzeitung „Deutschlands gefährlichste Linksextremistin“. Andere Medien verwenden in ihrer Berichterstattung sexistische Narrative, um Lina E. zu beschreiben.
Soko Linx
Aber Perücke, Chat-App und Hammer machen noch lange keine Terroristin. Sehr wohl aber ein gutes Symbol für etwas, für das man schon lange Beweise sucht: Nach Ausschreitungen im zum autonomen Mythos stilisierten Connewitz und einem darauf folgenden Imageschaden der Polizei ist die Festnahme von Lina E. ein gefundenes Fressen für all jene, die in der sächsischen Stadt einen neuen RAF-Terrorismus heranwachsen sehen. Und für die eigens vom sächsischen LKA für die linke Szene eingerichtete „Soko Linx“ eine Möglichkeit, endlich Ermittlungserfolge zu bringen.
Seit 2010 führte diese laut der Dresdner Staatsanwaltschaft fünf Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129 – doch kein:e einzige:r Beschuldigte:r wurde in den letzten zehn Jahren wegen einer Mitgliedschaft in einer „linksextremen kriminellen Vereinigung“ verurteilt. Meistens dienen die Ermittlungen wohl dazu, Infos über die linke Szene zu sammeln. Vor wenigen Jahren musste das LKA Sachsen starke Kritik einfahren, weil bei Strukturermittlungen im linken Fußballmilieu in Leipzig mehrere hundert Personen ohne Anfangsverdacht abgehört wurden, darunter auch Journalist:innen und Politiker:innen.
Selbst wenn die Beschuldigte an dem Angriff auf die Neonazis in Eisenach beteiligt gewesen sein sollte, wirft der Fall kein gutes Licht auf die sächsischen Ermittlungsbehörden, da die Beweislage gegen ihre angeblich terroristische Absicht so dünn ist, während andere viel eindeutigere Beweislagen viel weniger vehement ermittelt werden.
Wenn ein KSK-Soldat in Sachsen Waffen und Sprengstoff in seinem Garten versteckt, auf seinem Telefon Kontakte zu Preppern sowie SEK-Beamten gefunden werden und er privat gerne mal Nazi-Devotionalien sammelt, dann wird dieser zu zwei Jahren Bewährungsstrafe verurteilt. Wenn Hunderte bewaffnete Neonazis einen Stadtteil zerlegen, dabei zahlreiche Geschäfte und Autos demolieren und Menschen angreifen und es veröffentlichte Chatprotokolle gibt, die eine Absprache über den Angriff belegen, werden hier teils sogar nur Geldstrafen von 900 Euro verhängt. Eine kriminelle Vereinigung sieht hier scheinbar niemand.
Es wirkt albern, dass Lina E. gefährlicher als diese Menschen sein soll. Aber es lässt sich eben gut als Skandal verkaufen, wenn eine 26-Jährige zur Anführerin einer Terrorzelle stilisiert wird. Die Ermittler:innen werden sich den Vorwurf, mit zweierlei Maß zu messen, aber erneut gefallen lassen müssen. Und die Presse wird sich fragen müssen, inwieweit sie dieser Hexenjagd Vorschub geleistet hat.
Transparenzhinweis: In einer vorherigen Version dieses Artikels wurde das Bild von Lina E. unverpixelt gezeigt. Das sehen wir als redaktionelles Versäumnis. Dafür entschuldigt sich die Redaktion. Die Autorin des Textes, Sarah Ulrich, war nicht an der Bildauswahl beteiligt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus