Coronabekämpfung in Deutschland: Es gibt kein deutsches Impfdesaster
Nein, wir sind nicht „Impfweltmeister“. Aber vieles läuft gut. Wir sollten die Schwarz-Weiß-Malerei lassen, auch für unser eigenes Wohlbefinden.
D as „Impfdesaster“ ist eines der vielen neuen Wörter der Pandemie. Fast jeden Tag liest man es in den Medien, dank der neuen Verwirrungen um AstraZeneca zur Zeit erst recht, und längst wird es so beiläufig verwendet wie Händewaschen, Inzidenz oder Schnelltest. Impfdesaster, klar! Das ist mal so richtig in die Hose gegangen, da hat sich Deutschland international bis auf die Knochen blamiert. Peinlich.
Es stimmt nur dummerweise nicht. Wir erleben in der deutschen Coronapolitik gerade Desaster in diversen Bereichen: beim sinnvollen Einsatz von Tests, bei Lockerungen und Schließungen, bei der Ausstattung der Schulen mit Luftfiltern oder digitalen Ersatzlösungen für den Präsenzunterricht. Aber nicht beim Impfen.
Sicherlich gab es in der deutschen Impfkampagne diverse Pannen und auch eine sehr schwerwiegende Fehlentscheidung. Vieles läuft aber auch ziemlich gut. Das wird nur kaum gesehen.
So ist inzwischen ein Großteil der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, wo es zu den meisten Todesfällen kam, geimpft. „Man könnte sagen, das knappe Gut Impfstoff ist sehr effektiv eingesetzt worden“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Christian Meier zu Recht in seinem Text „Das Schimpfdesaster“ auf Übermedien.
Wie das Jammern über die Deutsche Bahn
Derzeit werden über 1,5 Millionen Dosen pro Woche verabreicht, Tendenz – abgesehen von den AstraZeneca-Dellen – steigend. Der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Sebastian Dullien, bekräftigte Anfang dieser Woche seine Hochrechnung, dass bis Ende Juli alle Deutschen, die wollen, eine Erstimpfung haben werden. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach twittert sogar von Juni, auch nach dem Aussetzen von Astra für unter 60-Jährige. Und, als meine anekdotische, von mehreren Menschen bestätigte Evidenz: zumindest in den Berliner Impfzentren wird äußerst effizient und freundlich gearbeitet.
Nach Desaster klingt das nicht. Und doch ist das unterkomplexe Narrativ nicht mehr aus den Köpfen zu kriegen. Das versteht jeder, darauf können sich alle einigen, wie beim Jammern über die Deutsche Bahn. Und immer wieder werden die selben fünf, sechs Länder als Beweis dafür angeführt. Ja, es gibt Israel, die USA, Großbritannien, Chile. Sie impfen schneller. Freuen wir uns doch für sie!
Es ist schon absurd: Früher als erwartet gab es Impfstoffe, die dazu noch deutlich wirksamer sind als erhofft. Statt das als tollen Bonus in der Pandemiebekämpfung zu sehen, passierte das Gegenteil. Die deutsche Impfkampagne wurde von Anfang an schlechtgeredet, ein internationaler Impfwettbewerb startete und es ging nur noch darum, warum die nun schneller sind als wir. Jeder Schwung wurde zerjammert. Deutschland übererfüllt in dieser Frage spektakulär sein Klischee als Miesepeter und Sich-selbst-Schlechtmacher.
In der Impfweltrangliste liegt Deutschland derzeit mit etwas über 17 Dosen/100 Einwohnern um Platz 35 herum. Es gibt tatsächlich einige weniger reiche Nationen, die deutlich weiter sind: Serbien, Chile, Marokko vor allem. Ja, es stimmt, sogar Serbien – kaum vorstellbar, haben sie auf dem Balkan überhaupt elektrischen Strom? – hat bisher mehr Menschen geimpft. Das klappt in diesen Ländern vor allem, weil dort die Zulassungen lockerer sind. Aber wer hätte sich in Deutschland Sputnik-V spritzen lassen, bevor es im Februar den ersten positiven Artikel in The Lancet dazu gab? Oder CoronaVac vom chinesischen Hersteller Sinovac?
Alles hinter Platz 1 wird nicht akzeptiert
Gleichzeitig liegen Schweden, Kanada, die Niederlande oder Frankreich hinter Deutschland, Deutschland ist also international im Mittelmaß. Damit ist man nicht „Impfweltmeister“, aber es ist eben auch kein Desaster. Bloß eben in Deutschland, wo alles andere als Platz 1 nur schwer akzeptiert wird. Das sieht man übrigens auch bei jeder Fußball-WM ohne deutsche Finalteilnahme.
Zwei Dinge sollte man bei all dem trennen: Die Impfstoffbeschaffung und die -verabreichung. Bei der Beschaffung ist tatsächlich ein entscheidender Fehler passiert. Deutschland hätte mit seiner wirtschaftlichen Power, und ohne der EU die Verträge mit den Impfstoffherstellern zu überlassen, sicherlich aggressiver und mehr für sich kaufen können.
Ich bin trotzdem froh, dass hier europäisch gedacht wurde und wundere mich, wie viele eher besonnene Menschen auf einmal den riskanten Politikstil von Dicke-Eier-Männern wie Trump, Netanjahu und Johnson für erstrebenswert halten, nur weil er hier ausnahmsweise gut funktioniert hat. Oder auch die strikte America-First-Strategie, die Joe Biden nach seiner Amtsübernahme von Donald Trump kaum geändert hat, Stichwort Exportverbote.
Nachträglich ist es halt leichter
Die Schlagzeilen allerdings, wenn viele Milliarden in den Sand gesetzt worden wären, weil mRNA-Impfstoffe sich doch als untauglich erwiesen hätten, kann ich mir auch gut vorstellen. Fehler werden in Deutschland selten verziehen, und was wir nachträglich alles besser wissen, sollen die Entscheidungsträger gefälligst schon vorher bedenken. Andere Länder waren auch lockerer bei der Zulassung. Again: Würde ein hier überhastet zugelassener Impfstoff wirklich umfangreiche Nebenwirkungen haben (also eben mehr als die geringen von AstraZeneca jetzt), würde daraus ein Riesenskandal.
Klar ist es cool, sich an den Besten zu orientieren. Die Fehler bei der Impfstoffbeschaffung lassen sich aber nicht mehr rückgängig machen. Ob wir daraus gelernt haben, sehen wir bei der nächsten Pandemie (bitte nicht!!!). In der Zwischenzeit kann man sich weiter mit Israel vergleichen – das ist dann aber sehr frustrierend.
Das zweite große Feld ist die Impfstoffverteilung. Hier wird seit Wochen von den Millionen Impfdosen gesprochen, die auf Halde liegen, „verkommen“ oder „vergammeln“. Ein perfektes Beispiel für deutsche Überbürokratisierung sei das, während in den Impf-Superländern USA und Israel in Bars, Supermärkten, ja bald vermutlich sogar auch öffentlichen Toiletten geimpft wird.
Auch hier wäre differenzieren eine schöne Idee: Sämtliche Impfdosen werden niemals verimpft sein. Zum einen kommen sie in größeren Schüben an, zum zweiten müssen Puffer zurückgehalten werden. Dass auf Lieferversprechen der Konzerne nur bedingt gebaut werden sollte, dürften alle verstanden haben. Groß wäre das Geschrei, wenn auf einmal Zweitimpfungen platzen würden, weil zu knapp kalkuliert wurde.
In den USA ist auch nicht alles gut
Ende März waren in Deutschland 81 Prozent aller Impfdosen verimpft. Und in den USA? 78 Prozent. Dort liegen mehr als 40 Millionen Dosen auf Halde. Auch in den USA gibt es einen regionalen Impfflickenteppich und zusammenbrechende Buchungssysteme. Und für Weiße und Asian Americans ist es deutlich leichter, sich impfen zu lassen, als für Schwarze und Latinos.
Das ist die andere Seite des Pragmatismus, nach dem gerne gerufen wird gerade. Ist ja auch eine Supersache – aber dann wird es halt schwieriger, die Impfreihenfolge einzuhalten. Und das wäre eben nicht egal in einem Land, wo Neid und Fairnessgefühl eine übergroße Rolle spielen, wo es zu einem Riesenskandal hochgejazzt wurde, als einige Landräte übriggebliebene Impfdosen nutzen, wo unter einem happy Facebook-Post über eine Impfung mit „Schön für euch. Meine Mutter (77) wartet immer noch“ geantwortet wird.
Was hingegen ein dicker Fehler war: Die komplexen und undurchsichtigen Terminvergabe-Verfahren, die in vielen Bundesländern zu Telefonwarteschleifen-Abenteuern und Frust geführt haben. Und auch das Impf-Erwartungsmanagement war nicht das glücklichste. Wobei das nicht nur an der Politik liegt – seit Mitte Januar war klar, dass der Impfstoff erst mal knapp bleibt. Dann von Tag zu Tag, von Woche zu Woche immer wieder aufs Neue enttäuscht zu sein, dass die älteren Verwandten immer noch nicht dran sind, erinnert – sorry! – an beleidigte Kinder, die mit dem Fuß aufstampfen und jetzt doch aber sofort Süßigkeiten haben wollen.
Unsere mentalen Ressourcen brauchen wir anderswo
Das geht selbstverständlich an die Substanz. Weshalb wir gut daran täten, das „Impfdesaster“ mental mal zum „Ganzokayerimpfprozess“ zu machen und nicht ausschließlich die schlechten Seiten zu sehen. Wir erleben schon genug Frust und unsere knappen mentalen Energieressourcen brauchen wir anderswo.
Gleichzeitg ist das Narrativ ein Trick von Landes- und Kommunalpolitikern geworden, um von der Verantwortung für eigene Fehler abzulenken: „Wir sollten lieber mal mehr Tempo ins Impfen kriegen“ heißt es dann und vermittelt den Eindruck, als würde jeden Tag aufs Neue diese Chance vertan – was tatsächlich ein Versagen von desaströsen Ausmaßen wäre.
Mit dem zweiten Quartal soll nun deutlich mehr Impfstoff kommen. Erst ab jetzt entscheidet sich, ob die deutsche Impfkampagne klappt oder scheitert. Abgerechnet wird zum Schluss. Aber bis dahin sollten wir die Schwarz-Weiß-Malerei mit dem „Impfdesaster“ einfach mal sein lassen. Auch für unser eigenes Wohlbefinden.
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