Hamburger Schüler: Abschiebung statt Abitur
Joel A. soll trotz mustergültiger Integration abgeschoben werden. Grund ist auch eine Gesetzesänderung. Seine Schule setzt sich für ihn ein.
Vor vier Jahren erst kam er nach Deutschland, nach Hamburg. Im vergangenen Jahr machte er seinen Mittleren Schulabschluss. „Eigentlich wollte ich danach eine Ausbildung machen. Aber meine Lehrer haben mir die Prognose gegeben, dass ich für die Oberstufe geeignet bin und mich dazu ermutigt, Abitur zu machen“, sagt er. Inzwischen hat er sein erstes Jahr in der Oberstufe an der Nelson-Mandela-Schule im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, südlich der Elbe, fast geschafft – und ist sehr positiv aufgefallen.
„Joel ist ein zuverlässiger, ruhiger und interessierter Schüler“, sagt seine Klassenlehrerin Elif Basboga, die ihn in den Kernfächern Deutsch und Mathe unterrichtet. Um zusätzliche, nicht verpflichtende Kurse in der Schule belegen zu können, habe Joel in diesem Schuljahr sogar extra seine Schichten bei der Arbeit umgelegt. „Neben seinem Engagement im Unterricht ist er aber auch ein sehr empathischer und offener Mensch“, betont Basboga. „Er setzt sich unter seinen Mitschülern für ein friedliches Miteinander ein, beispielsweise in Bezug auf die Religion.“
In der Schule stehen sie hinter ihm, wollen seine Abschiebung verhindern. Um zu zeigen, wie groß die Unterstützung für Joel ist, haben sie an der Schule eine Petition gestartet. Unter dem Titel „1,2,3,4 – Joel bleibt hier“ läuft diese seit der vergangenen Woche auf der Plattform innn.it. Auch die Betreiber der Plattform sind auf die Petition aufmerksam geworden und boten den Initiatoren an, Flyer für sie zu erstellen und kostenlos zur Verfügung zu stellen. Am Mittwoch zogen die Schüler und Schülerinnen der Jahrgangsstufen 11 und 12 dann los, um diese Flyer in der Stadt zu verteilen, in der Innenstadt, am Hauptbahnhof, in Altona und an anderen Orten.
Mit dem 18. Geburtstag begannen die Sorgen
Vor einem Monat begann sich Joels Situation zuzuspitzen. Er kam wie gewöhnlich nach einem langen Tag nach Hause. „Mein Vater hat schon auf mich gewartet und mir einen Brief gegeben. Da hatte ich direkt ein schlechtes Gefühl“, erzählt er. Der Brief war von seiner Anwältin Michaela Koch. Sie kämpft seit bald einem Jahr um Joels Aufenthalt.
Als er 2020 mit 14 Jahren als unbegleiteter Minderjähriger zu seinem Vater nach Deutschland kam, erhielt Joel eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Im vergangenen August ist er volljährig geworden. Früher haben Geflüchtete in Joels Situation nach ihrem 18. Geburtstag für gewöhnlich ein Bleiberecht nach Paragraf 25a des Aufenthaltsgesetzes bekommen. Diese Regelung war speziell für junge Volljährige geschaffen worden, die gut in Deutschland integriert sind und hier eine Ausbildung machen oder noch zur Schule gehen.
Seit 2023 haben sich die Voraussetzungen für diesen Aufenthaltstitel jedoch geändert: Der Gesetzgeber will es nun so, dass der nur noch jungen Erwachsenen erteilt wird, die in den vergangenen zwölf Monaten vor dem Antrag auf Bleiberecht mit einer Duldung in Deutschland gelebt haben.
„Das ist völlig paradox“, sagt Anwältin Koch. „Wenn junge Menschen wie Joel sich in Deutschland um eine Aufenthaltserlaubnis bemüht und diese auch erhalten haben, stehen sie jetzt schlechter da als solche, die nur geduldet wurden.“
Auch Joel versteht nicht, was ihm gerade passiert. „Ich habe mich hier immer richtig verhalten und angestrengt, deshalb verstehe ich nicht, warum ich jetzt plötzlich nicht mehr bleiben darf“, sagt er.
Seitdem er volljährig ist, ist Joels Fall schon durch mehrere Instanzen gegangen – erfolglos. Inzwischen wird es immer enger für Joel und es droht die Abschiebung nach Ghana. Dort ist es zwar grundsätzlich sicher. Trotzdem sagt Joel: „Wenn ich nach Ghana zurückmuss, bedeutet das mein Ende. Ich habe da keinen Schulabschluss, keine Arbeit und keine Perspektive.“ Joels Vater, seine kleine Schwester, seine Freunde – sie alle leben in Deutschland.
Der Fall liegt nun bei der Härtefallkommission des Eingabenausschusses in der Hamburgischen Bürgerschaft. Dort entscheiden die Abgeordneten über besondere aufenthaltsrechtliche Fälle, in denen das Recht zu ungerechten Ergebnissen führt. Voraussichtlich werden sie nächste Woche über Joels Antrag beraten.
Carola Ensslen, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Linksfraktion und Mitglied des Ausschusses, kritisiert die aktuelle Rechtslage. „Immer wieder erlebe ich es, dass Joel und andere junge Menschen, die längst Hamburger geworden sind und hier gute berufliche Perspektiven haben, von Abschiebung bedroht sind“, sagt sie. „Sie brauchen ein Bleiberecht, zum Beispiel über einen Härtefall-Aufenthaltstitel.“
Letzte Chance Härtefallkommission
So ein Aufenthaltstitel wäre tatsächlich die letzte Chance für Joel A.. Um der Härtefallkommission zu verdeutlichen, wie gut er in Deutschland integriert ist, kam seine Anwältin auf die Idee, eine Stellungnahme seiner Lehrerin einzureichen.
„Vor gut drei Wochen hat Joel mir einen Brief seiner Anwältin gegeben“, sagt Elif Basboga. „Als ich den gelesen habe, wurde mir klar, dass ihm die Abschiebung droht.“ In ihren 15 Jahren Erfahrung als Lehrerin habe sie das noch nie erlebt. „Es hört sich vielleicht naiv an, aber ich konnte danach die Nacht nicht schlafen und habe überlegt: Was kann ich nur in diese Stellungnahme schreiben, damit er nicht abgeschoben wird?“
Kurz darauf reichten nicht nur Basboga, sondern auch Joels Mitschüler und die Elternschaft Stellungnahmen bei der Kommission ein. Alle bitten darin eindringlich darum, dass Joel der Klassengemeinschaft nicht entrissen wird.
Junior Antwi ist ein Freund von Joel. Er kennt ihn noch aus der Zeit, in der er auf einer anderen Schule den Mittleren Schulabschluss machte. „Als ich ihn hier in der Oberstufe wiedergetroffen habe, war ich überrascht“, erzählt er. „Nach nur vier Jahren in Deutschland Abitur – davor hatte ich Respekt. Er ist sehr ausgeglichen und will nie Streit, deshalb mag ihn hier jeder.“
Die Hilfe der Schulgemeinschaft hat erste Früchte getragen: Bei der Petition für Joel sind am Mittwochmittag schon mehr als 23.000 Unterschriften zusammengekommen.
„Ich habe die Probleme mit meinem Aufenthalt lange verheimlicht, weil ich mich dafür geschämt habe“, sagt Joel. „Jetzt überwältigt es mich, wie viel Unterstützung ich bekomme. Diese Gemeinschaft will ich nicht verlieren.“
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