Soziale Ungleichheit: Wie wär's mal mit der Klassenfrage?

Linke streiten lieber über Kulturkampf-Themen als über soziale und wirtschaftliche Konflikte. Das geschieht oft auch aus reiner Bequemlichkeit.

Demonstration vor einer Villa.

Satirische Demo durch die Berliner Villengegend Nikolassee Foto: Florian Boillot

Zwei Meldungen schafften es diese Woche nicht in die „Tagesschau“ und blieben auch sonst ziemlich unbeachtet: Die DAX-Unternehmen schütten an ihre Aktionäre eine Rekordsumme von 54 Milliarden Euro an Dividende aus. Und die Bundesbank berichtet in ihrer neuen Vermögensbilanz, dass die Ungleichheit in Deutschland wieder angestiegen ist. Trocken notiert die Bundesbank: „Insgesamt bleibt die Vermögensungleichheit in Deutschland […] recht hoch – auch im internationalen Vergleich.“

Die alte Frage „Wer besitzt?“ spielt auch in linken Kreisen großenteils nur noch eine untergeordnete Rolle. Identitäts- und Gesellschaftsthemen stehen oben. Wenn es was Neues zum Genderverbot an bayerischen oder hessischen Schulen gibt, weiß ich um 9 Uhr als Meinungsredakteur: Gleich kommen die empörten Kommentarangebote. Bei Verteilungsthemen ist es viel schwieriger, einen Kommentarwilligen oder einen freien Platz zu finden.

„Links“ befindet sich in einer Pendelbewegung: In den 1970er Jahren haben westdeutsche Linke alles durch die marxistische Brille gesehen; Themen wie der Feminismus wurden als „Nebenwiderspruch“ abgetan. Das war zu einseitig. Inzwischen ist das Pendel in das andere Extrem ausgeschlagen: Der Kulturkampf hat den Verteilungskampf abgelöst. Ersterer ist zweifellos wichtig, er beschäftigt die Leute – aber stimmen die Proportionen noch?

Die Frage, wer besitzt und wer nicht, entscheidet über Einfluss, Lebenschancen und Lebensqualität. Und sie ist eine massive Gerechtigkeitsfrage. Es wäre schon viel gewonnen, wenn nur 20 Prozent der Erregungsenergie über irgendwelche Ausladungen und offene Briefe im Gazakontext in eine Empörung über materielle Skandale fließen würde, die, anders als die Erregung über Nancy Fraser und andere, ganz sicher noch in einem halben Jahr existieren: dass Kapital in Deutschland so extrem ungleich verteilt ist; dass man durch Vermögen anstrengungslos noch reicher wird, während die Lohnabhängigen im Hamsterrad hängen; dass Kapitalerträge und Erbschaften viel weniger besteuert werden als das, was man durch eigener Hände Arbeit verdient.

Komplizen des Anlegerkapitalismus

Was Karl Marx nicht ahnen konnte: die Größe und die ambivalente Rolle der Mittelschicht. Die Angehörigen der Mittelschicht sind meist lohnabhängig, aber oftmals zu „Komplizen“ des Anlegerkapitalismus geworden, wie der Soziologe Oliver Nachtwey das mal nannte. Wer sein bürgerliches Leben zu erheblichen Teilen auf Kapitaleinkünften oder einem zu erwartenden Erbe aufbaut, wird eine Vermögen- und eine vernünftige Erbschaftsteuer eher nicht so gut finden. Oder als erbender Linksbürgerlicher in der Verteilungsfrage mit schlechtem Gewissen stillhalten und sich stattdessen auf Gesellschafts- oder Identitäts­themen verlegen.

Natürlich ist es schwieriger, die Bedeutung von wirtschaftlichen Zahlen zu erkennen, als sich über die erwartbare Bemerkung einer CSU-Politikerin zum Paragrafen 218 aufzuregen. Wahrscheinlich ist das Ungleichheitsberichterstattungsbusiness auch einfach zu routiniert. Es reicht nicht, Jahresberichte nachzuerzählen und als kritische Stimme den Sozialverbandschef Ulrich Schneider (den mit den großen Koteletten) zu interviewen.

Wie wäre es, nur so als Beispiel, eine Reise von Mietern des Wohnungskonzerns Vonovia/Deutsche Wohnen nach Oslo zu organisieren und auf dem Rathausplatz eine zünftige Demo zu organisieren? Euren Wohlstand bezahlen wir! Warum Oslo? Der norwegische Pensions- und Staatsfonds, in dem die gewaltigen Öl­einnahmen des Landes stecken, ist der größte Einzelaktionär von, genau, Vonovia. Norwegische Rentner, denen es ohnehin schon ziemlich gut geht, können also ihre Edelstahl-Einbauküche in ihrem Ferienhaus dank der Vonovia-Mieterhöhungen finanzieren – es ist nicht immer nur der böse Kapitalist, der von der großen globalen Umverteilung von unten nach oben profitiert.

Aufmerksamkeit wäre garantiert, im reichen Norwegen ist man Sozialdemos nicht so gewöhnt. Ich wäre auf der Demo dabei, ich male auch die Plakate.

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