Sechsjähriger unter Tatverdacht

Eine Mutter will verhindern, dass schon Kinder mit Polizei und Strafrecht in Berührung kommen

Von Christian Rath

Die Polizei soll in Deutschland nicht mehr gegen strafunmündige Kinder ermitteln. Das fordert eine Berliner Mutter und Juristin, die gegen die Polizei Strafanzeige wegen „Verfolgung Unschuldiger“ gestellt hat. Ihr Sohn war erst sechs Jahre alt, als er von der Polizei vorgeladen wurde.

Die Mutter, die aus Rücksicht auf ihre Kinder anonym bleiben will, schildert einen Vorfall aus dem Herbst 2019. Damals gab es an der Grundschule ihres frisch eingeschulten Sohnes einen Konflikt im Hort. Eine Erzieherin versuchte daraufhin, die Eltern anzurufen. Dies wollte der kleine Junge wohl verhindern. Er trat der Erzieherin (in Hausschuhen) auf den Fuß und schlug sie mit seiner Kinderhand aufs Handgelenk. Die Eltern holten den Jungen sofort ab und erklärten ihm, dass man Erzieherinnen nicht schlagen darf. Der 6-Jährige entschuldigte sich. Doch die Erzieherin und der Konrektor der Schule stellten Strafanzeige wegen Körperverletzung.

Im Dezember 2019 erhielten die Eltern von der Berliner Polizei ein Schreiben mit der Überschrift „Vorladung von Kindern“. Der Junge solle mit den Erziehungsberechtigten aufs Revier kommen, um in einer „Ermittlungssache“ angehört zu werden. Auf der Rückseite stand ein „Merkblatt für junge Tatverdächtige und ihre Eltern“.

Die Mutter, eine promovierte Juristin, war empört. Schließlich sind Kinder in Deutschland bis zum Alter von 14 Jahren strafunmündig. Die Mutter beschwerte sich deshalb bei der Schule über die Strafanzeige und bei der Polizei über die Vorladung des 6-Jährigen.

„Es ist doch pädagogische Aufgabe der Schule, Konflikte selbst aufzuarbeiten, statt kleine Kinder von der Polizei mit Uniformen und Waffen einschüchtern zu lassen“, beschreibt die Mutter ihre Gedanken. Doch die Gespräche mit Schule, Schulaufsicht und Polizei brachten aus Sicht der Mutter wenig.

Im November 2020 stellte die Mutter nun ihrerseits Strafanzeige gegen Polizei und Schule – wegen Verfolgung Unschuldiger. Die Strafnorm – Paragraf 344 – erfasse auch den Fall, dass jemand strafrechtlich verfolgt wird, der „nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf“, zum Beispiel ein Sechsjähriger.

Doch die Berliner Staatsanwaltschaft lehnte es ab, den Fall aufzugreifen. In der Einstellungsverfügung, heißt es: „Ermittlungsverfahren gegen Kinder dienen nicht der Strafverfolgung“, sie dienten vielmehr dem „Kindeswohl“, nämlich der Prüfung, ob das Jugendamt oder das Familiengericht im Interesse des Kindes einzuschalten seien. Um diese Prüfung zu ermöglichen, müssten Strafanzeigen und Ermittlungen gegen Kinder möglich sein, so die Staatsanwaltschaft.

Die Berliner Mutter überzeugte das nicht. „Es ist auch Aufgabe der Schule, möglichen Kindeswohlgefährdungen nachzugehen.“ Anders als die Polizei sähen die Lehrkräfte die Kinder ja jeden Tag. „Polizei und Pädagogik muss man getrennt halten“, so die Juristin. Tatsächlich ist es aber wohl in allen Bundesländern üblich, dass die Polizei nach der Strafanzeige gegen ein Kind zunächst Ermittlungen aufnimmt, die dann erst später von der Staatsanwaltschaft wegen Strafunmündigkeit eingestellt werden.

Für die Berliner Mutter hat sich die Perspektive verändert. Nachdem sie den Umgang mit ihrem sechsjährigen Sohn zunächst für einen krassen Einzelfall hielt, scheint es sich eher um eine gängige und von der Justiz akzeptierte Praxis zu handeln. Vorige Woche hat die Juristin dennoch eine Beschwerde an die Berliner Generalstaatsanwaltschaft geschickt.