Abrechnung mit linker Identitätspolitik: Überall Opfer
Judith Sevinç Basads Buch „Schäm dich“ ist eine polemische Abrechnung mit der neuen Wokeness – und ihrer Teilung der Welt in Gut und Böse.
Wer sich heute zu Identitätspolitik und Antirassismus äußert, kann aufs Glatteis geraten. Zumindest dann, wenn die Person nicht auf den ersten Blick als diskriminiert „gelesen“ wird. Wenn sie also keinen offensichtlichen Migrationshintergrund hat, nicht schwarz, zumindest nicht reinweiß und/oder eine Transperson ist.
Dann hören jene „Nichtbetroffenen“ von den migrantisch geprägten und rassismuserfahrenen Aktivist:innen nicht selten Sätze wie „Dazu darfst du nicht sprechen“ oder „Du hast keine Ahnung, weil du weiß bist“. Das führt mitunter zu fragwürdigen Rollenverständnissen, Zuschreibungen und Selbstwahrnehmungen.
So weigert sich die österreichisch-bosnische und diskriminierungserfahrene Autorin Melisa Erkurt, sich als Person of Color zu bezeichnen. Sie sei zwar muslimisch und migrantisch, habe aber eine weiße Haut, schrieb sie kürzlich in der taz. Und da ist Ijoma Mangold, Literaturkritiker der Zeit mit nigerianischem Vater, der äußerlich so sehr Person of Color ist, dass sich Antirassismusaktivist:innen immer wieder wundern, wenn Mangold sich selbst als einen Richard Wagner liebenden „Gesinnungspreußen“ bezeichnet.
Und da ist Judith Sevinç Basad. Germanistin, Philosophin und Autorin des gerade erschienenen Buchs „Schäm dich!“ Sevinç Basad ist weiß und dunkelblond, aber sie hat einen türkischen Migrationshintergrund und als Kind Ausgrenzung erfahren. Darf sie nun sprechen oder nicht?
Sie wehrt sich gegen Sprechverbote
Sie tut es einfach. Ihr Buch, das den Untertitel „Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist“ trägt, ist eine wütende und polemische Abrechnung mit den sogenannten Woken, den „Aufgewachten“, mit jenen Menschen also, die sich antirassistisch und queerfeministisch engagieren und vorgeben, so Basad, was gerecht und ungerecht sei. Oder um es mal in dem Tenor des Buches zu formulieren: die es damit übertreiben.
Basads Stoßrichtung kommt nicht von ungefähr. Als Mitbegründerin der Initiative Liberaler Feminismus, der Frauen als leistungswillige und fähige Individuen definiert, hält sie nicht viel von einem Opferstatus, ob als Frau oder als Migrantin. Sie wehrt sich gegen Sprechverbote und -vorgaben und will sich nicht von den „Social-Justice-Warriors“ (den Gerechtigkeitskämpfer:innen) zurechtweisen lassen.
Die Autorin spannt den Bogen von Denkverboten über Unschärfen im Diskurs (vor allem der „weiße Mann“ und „die Strukturen“ seien für das Leid von Migrant:innen verantwortlich) bis hin zu einer zum Teil vereinfachten Täter-Opfer-Relation, die die Welt in Gut und Böse einteilt. Sie verwendet Begriffe wie Totalitarismus, wenn etwa ein „woker“ Autor fordert, „den Privilegierten“ sollten die Jobs weggenommen werden. Sie kritisiert, dass aus Einzelpersonen Gesamtschicksale werden und Individualität dadurch abhanden komme.
Das alles klingt nach einer großen Abrechnung mit einer linksliberalen Identitätspolitik, die eher spalten als integrieren will. Und das ist es auch. Damit ist Basad immer weniger allein. In jüngster Zeit mehren sich identitätspolitisch kritische Texte von Autor:innen wie jüngst etwa der Französin Caroline Fourest, des Zeit-Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo und der FAZ-Redakteurin Anna Prizkau. Sie geißeln Identitätspolitik als – zugespitzt formuliert – zwar gut gemeintes, aber eben doch Gebrüll, das mehr spaltet als zusammenführt.
Basad nimmt die „Woken“ heftig auseinander: die amerikanische Soziologin, Aktivistin und Buchautorin Robin DiAngelo, die deutsche Antirassismustrainerin Tupoka Ogette, die gerade mit Morddrohungen überzogene Comedy-Autorin Jasmina Kuhnke, die deutsche Buchautorin und Podcasterin Alice Hasters. Auch mit der taz und ihren aktivistischen Autor:innen wie Hengameh Yaghoobifarah, Sibel Schick, Mohamed Amjahid geht Basad ins Gericht.
Am kritischsten setzt sich Basad mit Amjahid auseinander und weist ihm nicht nur eine ausgrenzende Aggressivität nach, sondern falsche Aussagen. Dessen Rede „Wie Schwarze und PoC deutschen Journalismus retten können“ auf der Digitalkonferenz re:publica im Oktober 2020, deren Aussagen später in der taz erschienen sind, ist in Basads Augen so hanebüchen, dass sie das nur noch mit „unfassbar“ kommentieren kann.
Kein Hineindenken möglich?
Amjahid zufolge sind in den deutschen Medien „rein homogene, weiß cismännliche und heteronormative Führungsfiguren“ für „die Medienkrise“ verantwortlich. Denn ein „weißer Ressortleiter aus einem gutbürgerlichen Haus“ könne sich nicht in „gewisse Lebensrealitäten“ beispielsweise eines Arbeiterkindes oder eines PoC hineindenken. Was zu „langweiligem Content“ und zu einem schlechten Produkt führe.
Judith Sevinç Basad: „Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen die Welt in Gut und Böse einteilen“. Westend Verlag, Frankfurt am Main, 18 Euro
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass deutsche Medienhäuser vor allem mit Weißen besetzt sind und kaum proaktiv gegen Rassismus vorgehen. Aber das ändert sich gerade grundlegend. „Alte weiße Kommentatoren wie Heribert Prantl oder Patrick Bahners werden nicht müde, in ihren Texten die eigene Männlichkeit und das eigene Weißsein in Frage zu stellen“, schreibt Basad. Zudem würden in deren Blättern die Bücher von Ogette und Hasters „als Bestseller gefeiert“.
Natürlich darf und sollte man kritikwürdige Zustände weiterhin hart anprangern. Aber haben die einschlägigen Autoren und Autorinnen sich „die Medien“ eigentlich einmal etwas genauer angesehen? Ob taz, Zeit, der Deutschlandfunk, die Süddeutsche Zeitung oder Spiegel Online – sie alle befassen sich regelmäßig und ausführlich mit Antirassismusthemen. Was richtig und wichtig ist. Die lange Marginalisierten und Ausgegrenzten müssen zu Wort kommen, „die Weißen“ sollten ihnen genau zuhören.
Ständiges Aushandeln
Deutschland ist längst ein Einwander:innenland – mit Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten migrantischer Menschen. Die Debatte über Identitätspolitik ist mehr als ein Kulturkampf, nämlich ein ständiges Aushandeln von Macht und Hinterfragen von Privilegien aller Beteiligter. Das Ziel sollte nicht nur der Abbau von Diskriminierungen sein, sondern auch ein fruchtbares Nebeneinander verschiedener Kulturen.
Auf nicht mehr oder weniger versucht Basad hinzuweisen. Ihr Buch ist nicht in jedem Fall tiefgründig oder erschließt neue Denkräume. Aber es dürfte nicht das letzte Werk zu diesem Komplex bleiben.
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