20.000 demonstrieren in Berlin: Welle der Corona-Leugnung
So diffus die Proteste gegen die Beschränkungen auch sein mögen: Sie einfach als durchgeknallt abzutun ist falsch und gefährlich.
E s ist verlockend, den Aufmarsch von rund 20.000 CoronaleugnerInnen in Berlin ins Lächerliche zu ziehen. Ihr Festhalten an einer fantastischen TeilnehmerInnenzahl von 1,3 Millionen; der Appell eines Redners an die Polizei, den Dienst zu verweigern; Plakate mit Schriftzügen wie „Wir sind die zweite Welle“; der überall zu hörende schwäbische Akzent und die geduldete Teilnahme von klar erkennbaren Neonazis – all das reicht, um, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken twitterte, von „tausenden #Covidioten“ zu sprechen. Die Proteste derart abzutun wäre indes so falsch wie gefährlich.
Viele Linke und Berliner Initiativen gegen rechts zeigten sich überrascht von der leider immer noch ziemlich großen Demonstration. Dabei war die umfassende Mobilisierung besonders aus Süddeutschland bekannt gewesen; auch die Polizei hatte mit dieser Größenordnung gerechnet.
Dass sich Tausende einen Tag lang in einen Bus setzen, um zu einem Protest fahren, zeigt: Wir müssen ihn ernst nehmen, auch wenn das logisch denkenden und argumentierenden Menschen schwerfallen mag. Irgendwie weiß man zwar, wogegen die Leute demonstrierten – aber was ist ihr eigentliches Ziel: die Rücknahme der Corona-Auflagen? Die Übernahme der Macht in Deutschland? Einfach Spaß haben und mal auf ’ner Demo mundschutzfrei mit Freunden tanzen? Das bleibt unklar. Dass zu einem Thema mobilisiert wird, aber weitgehend ohne konkrete Idee oder Ideologie, dürfte der Grund sind, warum es letztlich so viele Demonstrierende wurden.
Wahrscheinlich ist es gar nicht so schwer, auch als aufgeklärter und der Wissenschaft wohlgesonnener Mensch in diese Gruppe abzurutschen. Genervt sein über den Mund-Nasen-Schutz; dazu ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat oder Frust über eine Steuernachzahlung, und dann vielleicht eine gute Freundin, die ein bisschen esoterisch drauf ist und die mensch dann auf eine solche Demo begleitet. Jedenfalls ist es unmöglich geworden, den Protest – wie weite Teile der Debatte zum Umgang mit Corona – auf einem Rechts-Links-Schema einzuordnen.
Dem bisweilen durchaus wahnhaft wirkenden Anliegen der Demonstrierenden muss nun ernst und konsequent begegnet werden. Bei möglichen weiteren Protesten dieser Art darf es auch nicht wieder vorkommen, dass die freudig zelebrierte Missachtung der Corona-Auflagen so lange von der Polizei toleriert wird.
Einiges erinnert an frühe Zeiten der AfD. Auch damals haben viele Linke den Zulauf zu der anfangs als rechtspopulistisch verharmlosten Partei nicht verstanden, nicht kapiert, woher das plötzlich artikulierte Unbehagen über die deutsche Politik rührt, die doch den Wohlstand vieler sichert. Ein Fehler, den wir jetzt nicht wiederholen sollten.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Krieg in der Ukraine
Keine Angst vor Trump und Putin
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden