Entgrenzung in der Coronakrise: Der Dampf muss abgelassen werden

Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen wie am Ballermann steigt. Man kann aber eine Bevölkerung nicht dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen.

Ein junger Mann mit rotem Hoodie steht mit blasiertem Gesichtsausdruck vor einer roten Wand

Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen steigt in alarmierendem Ausmaß Foto: Iuliia Isaieva/getty images

Es gibt viele Freizeitaktivitäten, auf die ich ohne jedes Bedauern für den Rest meines Lebens verzichten kann. Der Besuch der Stehkurve eines Fußballstadions gehört dazu oder der eines Heavy-Metal Festivals, etwa in Wacken. Es zieht mich auch nicht an den Ballermann, und ich komme gut ohne Karneval klar. Massenveranstaltungen sind einfach nicht mein Ding. Waren sie übrigens nie, auch nicht, als ich 20 war.

Aber das ist doch nur eine Beschreibung meiner Persönlichkeit, kein Verdienst, auf das ich Grund hätte, stolz zu sein. In den letzten Wochen scheint mir bei diesem Thema jedoch einiges durcheinanderzugeraten. Die Herablassung, sogar Verachtung, mit der auf Leute geblickt wird, die ein körperliches Gemeinschaftsgefühl mit vielen anderen dringend brauchen, könnte mich zu einem illegalen Rave auf der Hasenheide in Berlin treiben. Nicht, weil ich mich da wohl fühlen würde. Sondern schlicht aus wütender Solidarität heraus.

Schunkeln im Dunkeln

Ich unterstelle mal: Die allermeisten Leute, die sich politisch, fachlich oder publizistisch mit Corona befassen, mögen Abendessen zu viert oder sechst lieber als Schunkeln im Dunkeln. Deswegen sind sie Virologe, Kolumnistin oder Bundeskanzlerin geworden und nicht Animateure. Ist ja recht so. Aber es ist eben auch legitim, schunkeln zu wollen.

„Denn ich will, dass es das alles gibt, was es gibt“, sang Andre Heller schon vor Jahren. Da konnten früher auch Liebhaber der gepflegten Gastlichkeit im kleinen Rahmen mitgehen. Wollen sie das noch? Ich habe Zweifel. Die Borniertheit gegenüber Volksbelustigungen steigt in alarmierendem Ausmaß.

Es gibt einen nennenswerten Teil der Gesellschaft, der mindestens ein- oder zweimal im Jahr die Sau rauslassen will oder muss, um in der übrigen Zeit brav zu funktionieren. Wer die Teilnehmer der Sauforgien am Ballermann genau anschaut, stellt fest: Die allermeisten reisen ohne Partnerin oder Partner an. Was nicht bedeutet, dass sie unverheiratet wären oder keine unmündigen Kinder zu Hause hätten. Sondern nur: dass sie sich einige Tage lang „danebenbenehmen“ wollen. Ein uraltes Bedürfnis.

Die katholische Kirche, die menschliche Schwächen seit jeher besser kannte als die meisten Verwaltungsangestellten in staatlichen Institutionen, hat sich deshalb schon seit Jahrhunderten mit Fasching, Karneval, Fastnacht und ähnlichen Bräuchen arrangiert. Augenzwinkernd, durchaus mit Sympathie. Wohl wissend, dass die organisierte Entfesselung ihre Macht eher festigte als schwächte.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das Wissen darum scheint verloren gegangen zu sein. Auf den Wunsch nach einem Ventil reagiert das sich selbst für vernünftig haltende Establishment mit unfassbarer Arroganz. Wie blöd sind die denn alle, echauffiert sich das Bildungsbürgertum, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten. So, aber nein: so, so verantwortungslos.

Wer blöd ist, sind die, die so reden. Zu glauben, man könne eine Gesellschaft dauerhaft zur „Vernunft“ zwingen, ist äußerst unvernünftig. Irgendwo muss Dampf abgelassen werden. Und wenn das legal nicht geht, dann wird eben nach illegalen Wegen gesucht. Wonach denn sonst.

Es gibt einige wenige Versuche, dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen. Die Hamburger Linken wollen große, öffentliche Plätze wie das Heiligengeistfeld attraktiv für junge Leute gestalten, um Orte wie das Schanzenviertel in der Hansestadt zu entlasten. Wo sich abends derzeit ständig die Massen drängen.

Kann ja sein, dass das naiv ist. Mag sein, dass es nicht funktioniert. Aber es ist doch sehr, sehr schön, dass einige Leute wenigstens anfangen, sich Gedanken zu machen. Dann muss ich vielleicht doch nicht zur Hasenheide.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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