„Es braucht Friedensgespräche“

Winfried „Winne“ Hermann ist eine der wenigen noch verbliebenen Stimmen der Grünen, die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch sehen. Als Pazifist fühle er sich aber schon lange in der Minderheit

Oft gegen die Regierungs­linie, schon lange und noch immer: Winfried Hermann, gemeinsam mit der Publizistin und Grünen-Gründungsmitglied Jutta Ditfurth, hier bei einer Demo gegen den Zensus in Calw, Baden-Württemberg, Mai 1987 Foto: Thomas Kienzle/ap

Interview Benno Stieber

taz: Herr Hermann, seit Beginn des Ukrainekriegs haben Sie immer wieder kritische Anmerkungen zur Militarisierung der Politik gemacht. Jetzt haben Sie einen überparteilichen Aufruf gestartet. Sind Sie der letzte Pazifist in Ihrer Partei?

Winfried Hermann: Das glaube ich nicht. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde ich immer wieder von Grünen-nahen Friedensbewegten angesprochen, warum sich kein Grüner von Rang und Namen zur Eskalationsgefahr von Waffenlieferungen äußert oder wenigstens darüber diskutiert. Von Leuten, die konservativer sind, habe ich sehr positive Rückmeldungen bekommen. Sie teilten meine Sorge vor Eskalation. Aus meiner Partei habe ich dagegen nach meiner ersten Wortmeldung in der Zeitung Kontext ziemlich Gegenwind bekommen.

taz: Winfried Kretschmann, in dessen Kabinett Sie als Verkehrsminister sitzen, ist ganz anderer Meinung als Sie. Er sagt, mit Pazifismus könne man keinen Staat machen, das könne nur eine individuelle Einstellung sein. Hat er recht?

Hermann: Ja, das ist zuerst eine individuelle Haltung. Und doch gibt es Staaten, die friedensorientierte Politik machen oder beispielsweise die Schweiz, die auf Neutralität setzt und seit Jahrhunderten keinen Krieg geführt hat. Trotzdem sehe ich ein, dass die Haltung eines Bundeskanzlers nicht per se pazifistisch sein kann – das könnte er nur für sich persönlich sein. Dennoch kann man auch in dieser Funktion eine andere Politik machen, die auf Verhandlungen und Diplomatie setzt und nicht vor allem auf Waffen. Wenn man sagt, ein Aggressor versteht nur eine militärische Antwort, ist man in einer militärischen Logik gefangen. Das widerspricht dem Friedensgebot im Grundgesetz: zu versuchen, Frieden zu machen. Nichts anderes heißt Pazifismus. Das wäre eine wertebasierte Außenpolitik.

taz: Kennen Sie einen Weg, wie der Krieg friedlich beendet werden kann, den die Bundesregierung nicht kennt?

Hermann: Ich will nicht als Besserwisser auftreten, ich habe ja viel weniger Informationen als die Politiker in der Regierung und im Bundestag. Meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich wollen dazu beitragen, dass in dieser Republik vernünftig über Krieg und Frieden, Militär und Wege zum Frieden diskutiert wird. Wir dürfen mehr Diplomatie wagen.

taz: Sie haben sich mit Veteranen der Friedensbewegung zusammengetan. Braucht es nicht neuere Antworten als die, die im Kalten Krieg gegolten haben?

Hermann: Natürlich, alles andere wäre borniert. Es ist jedoch nicht angemessen, dass man alle Einsichten, die man damals gewonnen hat, heute für falsch erklärt. Es gibt erstaunliche Parallelen: Die Friedensbewegung galt als naiv, sie wollte den Rüstungswettlauf stoppen, in Sorge um einen atomaren Krieg. Auch damals hat die Nato ihre Aufrüstung mit Cruise Missiles mit einer „Raketenlücke“ begründet. Anders als heute gab es große Debatten, Demonstrationen und Diskussionen im Bundestag – und am Ende eine Friedensbewegung. Die Stationierung neuer amerikanischer Raketen wird heute fast kritiklos hingenommen, als „Tagesschau“-Meldung.

taz: Sind Sie gegen die Raketen?

Hermann: Ja. Es muss andere Lösungswege geben. Ich bin kein Putin-Versteher, kann aber nachvollziehen, dass Raketen, die auf Russland gerichtet sind, dort als Bedrohung gedeutet werden. Wer Friedenspolitik macht, muss die Interessen der anderen Seite verstehen, nicht rechtfertigen.

taz: Vielleicht heißt Putin verstehen, zu begreifen, dass er nur Stärke versteht.

Hermann: So denken alle Konfliktparteien. Und das ist ja zunächst eine Behauptung, die nicht stimmen muss.

taz: Was lässt Sie daran zweifeln?

Hermann: Der Beleg des Erfolgs militärischer Mittel steht aus: Die Aufrüstungslogik hat den Krieg leider nicht beendet, im Gegenteil. Wenn man den blutigen Stellungskrieg sieht, muss man doch die Strategie reflektieren. Die richtige Überzeugung, dass Putin im Unrecht ist, bringt auf dem Schlachtfeld nichts. Aber versetzen wir uns in die andere Seite: Während wir im Kalten Krieg den Weltfrieden durch den Warschauer Pakt gefährdet gesehen haben, galt das auf der Gegenseite für die Nato. In der Sowjetunion hat man die USA in Vietnam und anderswo Kriege führen sehen. Die Sowjetunion und später Russland hat die Gegenseite oft militärisch unterstützt und auch Kriege geführt, beispielsweise in Afghanistan oder Tschetschenien. Nach dem Kalten Krieg gab es aber Annäherungsansätze. Allerdings endete die Nato nicht, wie in Aussicht gestellt, an der polnischen Grenze. Und in der Folgezeit sind die Rüstungskontrollverträge von beiden Seiten unterlaufen und nicht verlängert worden. Jede Seite warf der anderen vor, die Verträge gebrochen zu haben.

taz: Was wollen Sie damit sagen?

Hermann: Ich will mit Fehlern des Westens keinesfalls den Angriffskrieg Russlands rechtfertigen. Aber es ist fatal, dass die Abrüstungs- und Friedenspolitik in den 2000er Jahren nicht weiterverfolgt wurde. Stattdessen wurde aufgerüstet. Die USA geben heute ein Vielfaches für Militär aus wie Russland.

taz: Man hat sich 2014 mit der Kriegsbereitschaft Russlands schon mal geirrt. Würden Sie Polen und den Balten guten Gewissens sagen, sie müssen sich keine Sorge machen?

Hermann: Nein. Auch als Pazifist bin ich überzeugt, dass es gerechtfertigt ist, dass sich die Ukraine verteidigt. Ebenso ist es richtig, dass die baltischen Staaten Vorkehrungen treffen. Ich glaube sogar, dass es trotz aller Kritik an Nato und den USA wichtig ist, dass diese Länder in der Nato sind. Ich verstehe, dass Finnland und Schweden beigetreten sind. Aber das hat einen Effekt: Rund um Russland gibt es nur noch die Nato. Ein Militärbündnis kann Friedenspolitik nicht ersetzen.

taz: Sie sagen auch, dass man Putin nicht mit dem russischen Volk gleichsetzen darf. Haben Sie mal versucht, Kontakt mit diesem anderen Russland aufzunehmen?

Hermann: Nein, dazu sind wir zu klein. Aber ich bin der Meinung, dass es fatal ist, dass wir seit dem Krieg alle zivilgesellschaftlichen Kontakte, Städtepartnerschaften und Forschungsgemeinschaften aufkündigen und boykottieren. Wie soll dann noch die andere Sicht der Dinge nach Russland gelangen? Aber auch die einfachen Soldaten, die gezwungen oder von Ideologie verblendet im Krieg fallen, können uns doch nicht egal sein.

taz: Die Frage ist doch, warum es den Russen egal ist.

Hermann: Den Ehefrauen und Kindern ist das nicht egal. Man muss wissen: Das Trauma des Zweiten Weltkriegs, der brutale Überfall durch die Deutschen, ist im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung sehr präsent. Dazu gehört, dass man zur Verteidigung des Vaterlands auch bereit zum Sterben sein muss. Das nutzt Putin in seiner Propaganda.

taz: Müssten Friedensverhandlungen nicht von der Ukraine ausgehen?

Hermann: Die politische Führung der Ukraine sieht keinen anderen Weg, als das Land militärisch zu verteidigen und Russland zu besiegen. Verhandlungen gelten als Kapitulation. Ob diese Position in der Bevölkerung noch lange mitgetragen wird, weiß ich nicht. Als Pazifist habe ich eine andere Sicht. Es braucht die Bereitschaft für eine Verhandlungslösung, von beiden Seiten! Ich persönlich würde unsere Demokratie mit allen zivilen Mitteln verteidigen. Aber ich wäre nicht bereit, für den Kampf um zerstörtes Territorium – und sei es ein Stück unseres Landes – zu sterben.

taz: Und für Demokratie und Freiheit – Werte, für die viele im Zweiten Weltkrieg gestorben sind?

Hermann: Der militärische Kampf der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zur Beendigung der Nazi-Gräuel, das ist das Standardargument, mit dem wir Pazifisten konfrontiert werden.

taz: Ist es falsch?

Foto: Arnulf Hettrich/imago

Winfried Hermann

72, seit 2011 Verkehrsminister in Baden-Württemberg, davor seit 1998 als Abgeordneter für die Grünen im Bundestag. Beständiger Kritiker des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21. Grünen-Mitglied seit 1982. Am Samstag kündigte er an, bei den nächsten Landtagswahlen 2026 nicht noch mal zu kandidieren.

Hermann: Dieser historische Vergleich hinkt meistens, aber grundsätzlich gilt: Wenn alle politischen Mittel zum Frieden verpasst werden, wenn schon viele tot sind und alles zerstört ist, dann ist ein gewaltfreier Ausweg schwierig.

Was wäre dann jetzt zu tun?

Hermann: Es braucht neutrale Moderatoren, Verhandlerinnen oder Verhandler, die einen Waffenstillstand beziehungsweise Bedingungen dazu vorschlagen, ohne damit Russlands Geländegewinne anzuerkennen. Die derzeitige Kriegsgrenze und ein Waffenstillstand müssten mit einem UNO-Blauhelm-Mandat gesichert werden.

taz: Da müsste Russland zustimmen.

Hermann: Ja, aber auch die Ukraine und USA. Es braucht Initiativen zu Verhandlungen.

taz: Um den Krieg abzukürzen, würde Ihr Parteifreund Anton Hofreiter gerne möglichst viele Waffen liefern, damit die Ukraine gewinnt.

Hermann: Immer mehr Waffen haben bisher nicht zum Erfolg, sondern zur Aufrüstung der anderen Seite und zu mehr Gewalt geführt. Es besteht das Risiko einer atomaren Eskalation. Es braucht Friedensgespräche! Aus meiner Sicht könnten die UNO und die Brics-Staaten vermitteln. Deutschland ist dafür nicht geeignet.

taz: Kritisieren Sie, dass wir auf der Seite der Ukraine stehen?

Hermann: Nein, aber zur Vermittlung braucht es neutrale Akteure.

„Friedenspolitik muss die Interessen der anderen Seite verstehen, nicht rechtfertigen“

taz: In Ihrem Aufruf heißt es, man müsse in einer Demokratie diese Positionen vertreten dürfen. Das hörte man auch auf Querdenker-Demonstrationen. Wer hindert Sie daran, Ihre Positionen zu vertreten?

Hermann: Mit den Querdenkern haben wir nichts gemein. Aber als ich mich vor eineinhalb Jahren das erste Mal öffentlich kritisch geäußert habe, bin ich auch von Parteifreunden heftig kritisiert worden. Obwohl ich damals schon gesagt habe, dass Putin ein Imperialist ist, der Krieg gegen das Völkerrecht verstößt, galt ich als Putin-Versteher und als einer, der die eigene Verteidigungsfähigkeit schwächt. So wird man in eine blinde Solidarität gedrängt, die ich für gefährlich halte.

taz: Wie sehr haben Sie sich von Ihrer Partei entfremdet?

Hermann: Nicht so sehr von der Partei. Seit dem Parteitag in Rostock 2001, wo Joschka Fischer den Farbbeutel ans Ohr bekommen hat und die Partei mit großer Mehrheit für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan gestimmt hat, weiß ich, dass ich in der Minderheit bin. Es ist trotz aller Kritik nicht mein Interesse, die Grünen zu spalten – unsere Initiative ist überparteilich.

taz: Was wollen Sie erreichen?

Hermann: Ich will, dass wir rational über Wege zum Frieden diskutieren und die Annahmen der militärischen Logik hinterfragen. Es ist Zeit für einen Strategiewechsel. Wollen wir uns wirklich von Putin in eine militärische Logik des 19. Jahrhunderts zwängen lassen, obwohl wir wissen, dass uns das auf lange Sicht davon abhält, die sozialen und ökologischen Probleme auf diesem Planeten zu lösen?