Pro und Contra AKW-Laufzeitverlängerung: Hat Greta recht?
In der aktuellen Energiekrise sei es ein Fehler, Atomkraftwerke abzuschalten, sagt die Klimaaktivistin. Nicht alle stimmen ihr zu. Ein Pro und Contra.
G reta Thunberg hat die Erderhitzung im Blick, für sie ist klar: Lieber Atom- als Kohlekraftwerke weiterlaufen lassen, wenn es eng wird. Doch nützt das überhaupt?
Ja, sagt Silke Mertins
Greta Thunberg hat mit ihrer Kritik ins Schwarze getroffen. Klimapolitisch ist es falsch, existierende Atomkraftwerke abzuschalten, während gleichzeitig Kohle und Gas verstromt werden – zumal mitten in einer Energiekrise.
Jetzt zählt beim Einsparen jede Kilowattstunde, wird Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck nicht müde zu betonen. In welcher Welt soll es dann logisch sein, dass es auf die 1.336.000 Kilowattstunden, die allein das AKW Emsland produziert, nicht ankommt? Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm geht davon aus, dass die Strompreise um bis zu 13 Prozent sinken, wenn die deutschen AKWs weiterlaufen. Und der Strombedarf wird allein durch Elektromobilität und mehr Wärmepumpen um 100 Terrawattstunden pro Jahr ansteigen. Wir haben deshalb nicht nur ein Gas-, sondern auch ein Stromproblem.
Natürlich ist die Anti-AKW-Bewegung eng mit der Entstehungsgeschichte der grünen Partei verbunden. Aber der Kern heutiger grüner Politik ist der Kampf gegen den Klimawandel und der CO2-neutrale Umbau des Industrielands Deutschland. Eine längere Laufzeit der bestehenden AKWs kann helfen, Zeit für die Energiewende zu gewinnen.
Niemand bestreitet, dass von der Atomkraft Gefahren ausgehen. Doch der Klimawandel zwingt uns, neu abzuwägen. Allein in diesem Sommer hat es Tausende Hitzetote in Deutschland gegeben. Der Weltklimarat geht davon aus, dass bereits die Hälfte der Menschheit „hochgradig gefährdet“ ist. Schon bei den Fluchtbewegungen, die daraus entstehen, sterben mehr Menschen als bei der Atomkatastrophe von Fukushima. Wir haben es bei der Klimakrise mit ganz anderen Dimensionen zu tun.
Jede Tonne CO2, die eingespart werden kann, ist wichtig. Selbst wenn man bei der Atomkraft die allerkonservativste Berechnung von 117 Gramm CO2-Emissionen pro Kilowattstunde zugrunde legt, die den gesamten Lebenszyklus umfasst, liegen diese immer noch deutlich niedriger als bei Steinkohle (846 Gramm) oder Erdgas (442). Bei einer Laufzeitverlängerung fallen wenig zusätzliche Emissionen an, denn der Bau und Rückbau sind ohnehin eingepreist. Auch Atommüll existiert bereits. Die geringen Mengen, die durch eine Laufzeitverlängerung dazukommen, fallen nicht ins Gewicht.
Aber was ist mit der dringend anstehenden Sicherheitsüberprüfung der AKWs und der Brennstäbe? Nun: Für die Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) muss ein AKW, anders oft behauptet, nicht abgeschaltet werden. Es handelt sich dabei überwiegend um eine Datenauswertung. Die vorhandenen Brennstäbe werden noch für einige Monate reichen. Das bisher keine neuen bestellt wurden, ist ein Fehler, der aber bis zum nächsten Winter noch behoben werden kann.
Herkunft und Traditionen sind wichtig für eine Partei, aber sie dürfen nicht dazu führen, politisch zu stagnieren. Die Grünen sollten sich deshalb von ihrer Tradition lösen und auf Greta Thunberg hören.
Nein, sagt Kai Schöneberg
Greta Thunberg liegt falsch. Deshalb haben sich unter anderem Scientists for Future auch bereits von ihr distanziert. Thunbergs Verdienste für den Klimaschutz sind riesengroß. Sie ist noch ein Teenager, aber hat bereits die Erderhitzung auf die Agenda der Mächtigen der Welt gesetzt, vor den Vereinten Nationen geredet, Millionen in vielen Ländern sind ihr gefolgt. Mit Recht. Doch selbst wenn Thunberg die Klimapäpstin persönlich wäre: Bei den deutschen Atomkraftwerken irrt sie. Ihre Äußerung ändert weiter nichts am Fakt, dass AKWs uns nicht helfen können, warm und energiesicher diesen und den Winter 2023/24 zu bestehen.
Der Grund: Deutschland hat ein Gas-, kein Stromproblem. Mit Atomstrom laufen weder Gasthermen noch Bäckeröfen noch Industrieanlagen. In diesem Winter sind (höchstwahrscheinlich) keine Engpässe bei Elektrizität zu erwarten. Wenn überhaupt, dann beim Gas. Und hier sieht es mit zu 95 Prozent gefüllten Gasspeichern zwar gut aus. Aber auch volle Speicher helfen Deutschland ja nur durch gut zwei knackekalte Wintermonate. Nur gut 10 Prozent des Gases wird hierzulande zur Gewinnung von Strom genutzt.
Die letzten drei AKWs in Deutschland können also kaum dazu beitragen, die Energiekrise zu lösen. Höchstens im Süden: Die zwei dort noch aktiven Meiler sollen nun eventuelle Stromengpässe im Winter als Reserve ausgleichen helfen – eine Stromknappheit dort könnte aber ausgerechnet wegen der vielen maroden Atommeiler in Frankreich entstehen.
Das eigentliche Problem ist die Dauerschwachstelle der Ampel: die energiearme FDP. Für sie läuft es nicht gut, nicht nur die Niedersachsenwahl wurde vergurkt. Da kommt das Klimaidol aus Schweden gerade recht. Einige JournalistInnen halten die neue Achse Thunberg–Lindner für ein attraktives Duo. Allerdings sind sie das höchstens publizistisch: Während Thunberg im Kern sagt, man solle lieber Atommeiler länger laufen lassen, anstatt Kohlekraftwerke anzuwerfen (was eben keinen Sinn macht), versucht die FDP, aus der neuen Liason Liberale–Fridays for Future Kapital zu schlagen.
Wollte Deutschland nicht aus der Atomkraft aussteigen, weil sie zu gefährlich und zu teuer ist? Die Energieform birgt so viele ungelöste Risiken, dass die Industrie weltweit nur dort baut, wo der Staat mit Milliarden einspringt. Und: Sollte Deutschland wirklich in einer Zeit auf Atomkraft setzen, in der die Sicherheit von Riesenanlagen wie dem AKW Saporischschja jeden Tag auf dem Spiel steht – und auch Westeuropa bedroht? Expertinnen fürchten, dass im Fall der Fälle Putin hiesige Reaktoren nicht mit Bomben verschonen würde.
Die Beschaffung neuer Brennelemente braucht einen Vorlauf von eineinhalb Jahren. Hilft aktuell also überhaupt nicht. Noch ein Treppenwitz der Geschichte: Wo sollte Deutschland denn das Uran für die Brennstäbe einkaufen – etwa beim EU-Hauptexporteur Russland?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Umgang mit Trauer
Deutschland, warum weinst du nicht?
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Nahost-Konflikt vor US-Wahl
„Netanjahu wartet ab“
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Rechtsruck in den Niederlanden
„Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“