Nach dem Tod von Mahsa „Zhina“ Amini: „Wir Frauen sollten vereint sein“

Die iranische Regimekritikerin Masih Alinejad gibt auch westlichen Politikerinnen eine Mitschuld.

Ein Porträt von der iranischen Regimekritikerin Masih Alinejad

Masih Alinejad trug auch im Ausland noch drei Jahre den Hidschab: „Ich war gehirngewaschen.“ Foto: Isabella De Maddalena/opale photo/laif

taz am wochenende: Frau Alinejad, Ihre Proteste gegen den Zwang zum Hidschab haben Sie bekannt gemacht. Können Sie sich noch erinnern, wann Sie das Kopftuch das erste Mal tragen mussten?

Iranische Journalistin, Aktivistin, Kritikerin des Regimes. Lebt im Exil in den USA. Fast 8 Millionen Menschen folgen ihr in den sozialen Medien.

Masih Alinejad: Ich bin in einem traditionellen Elternhaus aufgewachsen und musste den Hidschab von klein auf auch zu Hause tragen. Immer wenn mein Vater nicht da war, habe ich meinen Hidschab abgelegt und meine Freiheit genossen, heimlich, im Verborgenen. Ab dem siebten Lebensjahr kann man in Iran nicht mehr zur Schule gehen, wenn man keinen Hidschab trägt. Mein Bruder und ich gingen gemeinsam zur Schule, ich wollte einfach nur so frei sein wie er. Ich habe meine eigene Revolution aus der Küche meiner Familie gestartet – nicht für die Freiheit, sondern einfach, um das Kind zu sein, das ich wirklich war.

Und wann haben Sie sich entschieden, mit Ihrer Revolution an die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich hatte nie vor, den Iran für immer zu verlassen. Aber ich hatte zwei Möglichkeiten: In Iran bleiben und Selbstzensur üben oder das Land verlassen und laut werden. Ich kenne mich selbst: Niemand kann mich zum Schweigen bringen. Als ich 2009 den Iran verließ, lag mein Hauptaugenmerk als Journalistin auf der politischen Berichterstattung. Eines Tages ging ich joggen und postete ein Foto von mir auf meiner Face­book-Seite mit den Worten: „Wow!

Jedes Mal, wenn ich in einem freien Land laufe und den Wind in meinen Haaren spüre, erinnert mich das an die Zeit, als dieselben Haare eine Geisel in den Händen der iranischen Regierung waren.“ Frauen, die mich um meine Freiheit beneideten, bombardierten mich mit Nachrichten. Wir brauchen eine Frauenrevolution.

Wie meinen Sie das?

Wir müssen Frauen zu Wort kommen lassen. Wir sollten ihre Anliegen nicht herunterspielen, nicht sagen, dass wir zuerst politische Probleme lösen müssen. Also beschloss ich, ihnen eine Stimme zu geben. Unter dem Hashtag #mystealthyfreedom habe ich eine Onlinekampagne dazu ins Leben gerufen, später gab es auch eine Offlinekampagne, #whitewednesdays.

Jeder, der gegen den Zwangs-Hidschab ist, soll am Mittwoch etwas Weißes tragen, sei es ein Kleidungsstück oder ein Accessoire. An nur einem Tag wurden mir über 90 Videos von Teilnehmenden geschickt. Für mich ist der Hidschab nicht nur ein kleines Stück Stoff. Wenn wir anfangen, ihn abzulegen, dann wird es die Islamische Republik nicht mehr geben.

Wie reagiert der Iran auf Ihren Aktivismus?

Das iranische Regime hat meinen Bruder verhaftet und für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt, um mich zu bestrafen. Es schuf extra ein Gesetz, das besagt, dass jeder, der Videos an mich schickt, etwa im Rahmen meiner Hashtag-Aktionen, mit zehn Jahren Gefängnis bestraft wird. Die Regierung zerrte meine Schwester ins iranische Fernsehen, sie sollte mich öffentlich verleugnen.

Sie versuchten, mich aus New York zu entführen. Kürzlich verhaftete das FBI einen Mann mit einem geladenen Sturmgewehr vor meinem Haus. Aber es ist ihnen nicht gelungen, mich zum Schweigen zu bringen. Und ich hoffe, dass es ihnen nicht gelingen wird, ihr Narrativ an Linke und Liberale im Westen zu verkaufen.

1979 Revolutionsführer Chomeini erlässt ein erstes Dekret, das Frauen zum Tragen des Kopftuchs in Regierungsbüros zwingt. Das führt zu den ersten Protesten gegen den Zwangshidschab in der jungen Islamischen Republik.

1981 Das Kopftuch wird für alle Frauen über neun Jahren verpflichtend.

2014 Masih Alinejad ruft unter dem Hashtag #mystealthyfreedom („Meine heimliche Freiheit“) iranische Frauen dazu auf, Fotos von sich ohne Hidschab online zu teilen.

2017 Unter dem Hashtag #whitewednesdays ruft sie dazu auf, am Mittwoch etwas Weißes zu tragen, als öffentliches Zeichen des Protests gegen den Zwangshidschjab.

2022 Mahsa „Zhina“ Amini wird bei einer Kontrolle der Kleiderordnung von der Moralpolizei verprügelt und stirbt.

Für Mahsa „Zhina“ Amini endete diese Revolution tödlich. Was haben Sie gefühlt, als Sie diese Nachricht erhalten haben?

Ich war sehr deprimiert, als ich hörte, dass sie im Koma lag. Ich habe mein Privatleben vergessen, habe alle meine Termine abgesagt. Viele Mädchen und Frauen schickten mir Videos, in denen sie weinten und sagten: „Ich hätte Mahsa sein können“, denn wir alle wurden schon mal von der Sittenpolizei verhaftet. Keine der Politikerinnen weltweit hat dieses Problem bisher ernst genommen.

Als Mahsa starb, dachte ich: Wie viele sollen noch wie sie ihr Leben opfern? Ich wusste, dass das Regime eines Tages Menschen wegen des Hidschabs töten wird. Aber niemand hat auf mich gehört. Ich war nicht nur deprimiert, sondern auch zornig. 2014 forderte ich Politikerinnen auf: Wenn ihr nach Iran reist und diesen barbarischen Gesetzen folgt und einen Hidschab tragt, bedeutet das, dass ihr unsere Unterdrücker legitimiert, noch mehr Druck auf uns auszuüben.

Nach dem brutalen Tod von Mahsa gebe ich nicht nur der Islamischen Republik die Schuld, sondern auch allen Politikerinnen, die den Hidschab in Iran getragen haben. Zum Beispiel Claudia Roth von den Grünen: Als ich sie fragte, warum sie sich dem beuge, antwortete sie, es gebe so viele größere Probleme, die wir lösen müssten. Größer als Mahsas Leben?

In der Öffentlichkeit und den Medien gibt es Stimmen, die den Kampf gegen das Kopftuch als westlichen Diskurs betrachten – auch in der taz.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es ist eine Beleidigung für uns im Nahen Osten, wenn Sie das sagen. Dieses Argument wird von vielen Politikerinnen verwendet, wenn sie in mein Land kommen. Ich finde: Das ist Rassismus. Der obligatorische Hidschab ist nicht unsere Kultur, sondern die Kultur der Taliban und der Islamischen Republik, er ist das wichtigste Symbol der religiösen Diktatur. Sie sehen die Körper der Frauen als eine politische Plattform, auf die sie ihre Ideologie schreiben. Als Frau verdiene ich es, Würde zu haben.

Ich will die Autorin des taz-Textes nicht angreifen, auch die taz als Medium nicht. Aber ich greife sehr wohl dieses Argument an. Wir Frauen sollten vereint sein, Solidarität zeigen und nicht zulassen, dass Männer und religiöse Diktaturen ein falsches Narrativ verbreiten. Wahlfreiheit ist ein universeller Wert. Der Hidschab kann erst dann wirklich eine Wahlmöglichkeit sein, wenn alle Frauen auf der ganzen Welt die Freiheit haben zu entscheiden, ob sie ihn tragen wollen oder nicht.

Deutschlands Außenministerin, Annalena Baerbock von den Grünen, hat sich einer feministischen Außenpolitik verschrieben. Glauben Sie an dieses Konzept?

Als Feministin stehe ich für meine Werte ein. Keine der westlichen Feministinnen hat das bisher getan – alle haben sich der Hidschab-Pflicht in Iran unterworfen. Die ganze Welt hat das Burkini-Verbot in Frankreich verurteilt. Warum kümmern sie sich um das Recht muslimischer Frauen, einen Burkini zu tragen, aber nicht um die Millionen Frauen in Iran, in Afghanistan, im Nahen Osten, die gezwungen werden, das zu tun? Ist das Feminismus?

Nein, es ist Heuchelei. Wenn die Feministinnen im Westen ihre Haltung gegenüber den Frauen im Nahen Osten nicht ändern, werden sie keinen Erfolg haben. Sie könnten von den Frauen in Afghanistan und in Iran lernen, was eine echte Feministin ist.

Was wünschen Sie sich von westlichen Politikerinnen?

Dass sie die Taliban und die Islamische Republik Iran nicht legitimieren – bis zu dem Tag, an dem die verschwunden sind. Die Taliban können nicht reformiert werden. Und die Islamische Republik kann auch nicht reformiert werden. Seit 44 Jahren dürfen Frauen in Iran nicht selbst wählen, was sie anziehen wollen. Ich möchte, dass die westlichen Feministinnen hart gegen dieses Gender-Apartheid-Regime und gegen islamistische Staaten vorgehen.

Wenn die Taliban und die Islamische Republik westlichen Politikerinnen und Feministinnen nicht erlauben zu entscheiden, was sie bei den Treffen mit ihnen tragen wollen, werden sie sie auch niemals als Politikerinnen ernst nehmen, die viel größere Entscheidungen treffen.

Können Sie sich noch an das letzte Mal erinnern, dass Sie den Hidschab getragen haben?

Ja, da war ich bereits im Westen. Dabei gibt es hier keine Sittenpolizei, keine Gesetze, die ihn vorschreiben. Aber das ist das Ergebnis der Unterdrückung ab dem siebten Lebensjahr. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich ihn abnahm. Ich habe immer gesagt: Das ist meine Kultur, das ist meine Entscheidung. Ich habe mich selbst belogen. Mir wurde mein ganzes Leben lang gesagt, dass ich in die Hölle komme, wenn ich den Hidschab nicht trage.

Ich war gehirngewaschen. Und: Ich wollte meinen Eltern nicht das Herz brechen. Ich wollte meine Gemeinschaft nicht verlieren. Es war schwierig, meine eigene Identität zu finden. Ich wurde in einer muslimischen Familie geboren. Wenn man sagt, dass man kein Muslim mehr sein will, gilt man nach iranischem Recht als „Murtad“ – als Abtrünniger. Und das bedeutet, dass man hingerichtet werden kann.

Würden Sie sich denn als Muslima bezeichnen?

Im Westen wird mir immer wieder die gleiche Frage gestellt: Warum sind Sie gegen den Islam? Ich antworte: Warum ist der Islam gegen mich? Ich bin gegen Islamismus und den politischen Islam. Ich bezeichne mich nicht als Ex-Muslima – sondern einfach als freien Menschen.

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