Moralphilosophin über Klimaschutz: „Wir haben die Pflicht zum Handeln“

Einzelne können durch Verzicht auf Treibhausgasemissionen wenig zur Lösung der Klimakrise beitragen, sagt die Moralphilosophin Anna Luisa Lippold.

Gute Möglichkeit, zu handeln: Protestaktionen wie hier bei einer Straßenblockade in Berlin Foto: Paul Zinken/picture alliance

taz: Frau Lippold, die Menschen wissen, dass es die Klimakrise gibt, und auch, wie sie entsteht. Warum verhalten wir uns häufig trotzdem nicht ökologisch?

Anna Luisa Lippold: Es gibt keinen direkt spürbaren Zusammenhang zwischen meinen individuellen Handlungen und den Auswirkungen des Klimawandels. Aus Sicht der Ethik ist das ein Riesenproblem. Es braucht Kausalität, um moralisch verpflichtet zu sein, das eigene Verhalten zu ändern, etwa durch Weniger-Fleisch-Essen oder weniger Fliegen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch „Klimawandel und individuelle moralische Pflichten“ aber auch, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, sein Verhalten zu ändern.

Ich plädiere darin für ein Narrativ, in dem es um kollektive Lösungen geht.

Jahrgang 1989, forscht und arbeitet zur Ethik des Klimawandels. Ihre Dissertation war 2020 für den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung nominiert. Sie ist Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome Deutschland.

Was ist denn das aktuelle Narrativ?

Klimaschutz ist aktuell eine private Angelegenheit, bei der je­de:r selbst entscheiden kann, was er oder sie zu geben bereit ist. Im Ergebnis gibt es Menschen, die heute Sojamilch statt Kuhmilch trinken, aber als Nächstes in den Flieger steigen. Oder Menschen, die sich auf individueller Ebene wahnsinnig entbehrlich verhalten, dann aber gegen den Ausbau von Windkraft in der eigenen Nachbarschaft sind. So funktioniert Klimaschutz aber nicht. Er ist eine hochgradig öffentliche und politische Angelegenheit.

Deshalb stellt Ihr Gegenentwurf kollektive Lösungen in den Mittelpunkt?

Genau. Im Status quo kommt es nicht auf den individuellen Verzicht an. Wenn ich das verbleibende CO2-Budget für 2 Grad nutze und es durch die ­prognostizierte Weltbevölkerung bis 2050 teile, kommen Grenzwerte von 1 Tonne CO2 pro Kopf pro Jahr (pessimistisches Szenario) bis 2,58 Tonnen CO2 pro Kopf pro Jahr (optimistisches Szenario) heraus. In Deutschland liegt der durch­schnittliche ökologische Fußabdruck bei etwa 11 Tonnen. Diese Lücke von mindestens 8 Tonnen lässt sich nicht nur durch Verzicht schließen. Wir kämen durch Verzicht nicht auf das Emissionsniveau, das wir bräuchten, um effektiven Klimaschutz zu betreiben.

Das heißt, es ist egal, wie wir uns verhalten?

Ich sage nicht, dass jemand, der ausgesprochen entbehrlich lebt, moralisch etwas falsch macht – im Gegenteil. Aber die zentrale Frage ist: Kann ich davon ausgehen, dass, wenn ich auf alle meine individuellen klimaschädlichen Handlungen verzichte, alles getan habe, wozu ich moralisch verpflichtet bin? Dazu würde ich sagen: Nein.

Gibt es unterschiedliche moralische Pflichten für verschiedene Bevölkerungsgruppen?

Im Prinzip haben wir alle dieselbe moralische Pflicht. Und zwar die Pflicht zum kollektiven Handeln. Das Problem ist: Wir sind dazu aktuell nicht in der Lage. Daraus leite ich in meinem Buch eine individuelle Pflicht ab, die promotional duty, also eine bewerbende Pflicht. Das ist die Pflicht, kollektives Handeln voranzutreiben. Sei es durch Aktivismus, durch politisches Engagement oder durch Vorträge. Ich habe herausgearbeitet, welche Gruppen insbesondere zu kollektivem Handeln verpflichtet sind.

Welche sind das?

Das sind einerseits die Young, die jungen Generationen weltweit, die Able, also diejenigen, die in der Lage sind, etwas ­gegen den Klimawandel zu tun, und die Polluter, also diejenigen, die zum Klimawandel beitragen.

Ist es nicht ungerecht, junge Menschen besonders in die Pflicht zu nehmen? Sie haben meist weniger zur Klimakrise beigetragen als ältere Menschen.

Ich denke nicht in Verantwortung, sondern in zukunftsgerichteter Verpflichtung. Wenn ich so ein young able Polluter bin, so wie in meinem Fall, dann habe ich eine besondere moralische Pflicht, kollektives Handeln herbeizuführen.

Welche denn?

Ich gehe zum Beispiel zu den globalen Klimastreiks. Vor allem aber nehme ich viele Vorträge an, darunter auch die, von denen ich selbst nicht wirklich profitiere. Im Prinzip geht es darum, Leute zum Umdenken zu bewegen. Wichtig ist auch, dass Klimaschutz Spaß machen darf. Unserer Gesellschaft würde es guttun, wenn wir mehr positive Visionen vom Leben formulieren würden. Das ist das, was ich versuche.

Was ist Ihre positive Vision?

Bei einer positiven gesellschaftlichen Vision müssen wir über das Framing nachdenken. Vielleicht braucht es eine Vision, in der es bequem bleibt. Schließlich geht es darum, eine Mehrheit zu mobilisieren. Auf der individuellen Ebene ist meine Hoffnung, dass ich in einem Bau-, Mobilitäts-, Ernährungs-, Wohn- und Energiesystem lebe, das grundsätzlich klimaneutral ist. Dass, egal wie ich handle, ich immer klimaneutral handle.

Geht das in einem kapitalistischen System?

Vermutlich ist der Kapitalismus nicht das nachhaltigste System. Aber in Anbetracht der Zeit und der C02-Lücke sollten wir alle Energie darauf fokussieren, wie wir jetzt auf den richtigen Weg kommen. Ganz pragmatisch: Es muss in diesem System gehen.

Welche Rolle spielen staatliche Akteure bei kollektiven Lösungen?

Aktuell ist es so, dass politisches Handeln da endet, wo Machterhalt anfängt. Ich beobachte, dass viele politische Akteure Angst haben, an der Wahlurne abgestraft zu werden, wenn sie ambitionierten Klimaschutz betreiben. Gesellschaftlich müssen wir es schaffen, ein Klima zu kreieren, in dem politische Akteure gar nicht mehr anders können, als ambitionierten Klimaschutz voranzutreiben.

Und Großkonzerne? Oft sind sie ja die größten Klimasünder.

Großkonzerne sind Teil einer kollektiven Lösung. Es gibt sie, weil wir bestimmte Produkte nutzen oder brauchen. Es sollte darum gehen, diese Konzerne und ihre Produktionsverfahren zu dekarbonisieren.

Einige Großkonzerne stellen sich bei kollektivem Klimaschutz aber quer.

Dem setze ich kollektives Handeln entgegen. Es geht darum, gesellschaftlich und politisch die Grenzen so zu verschieben, dass sich Unternehmen so etwas nicht mehr leisten können.

Die Grenzen zu verschieben nimmt uns als Individuen in die Pflicht, oder?

Es geht um unsere Zukunft, also haben wir ein Eigen­interesse zu handeln. Aber die Grenzen für individuelles Handeln sind für verschiedene Personen unterschiedlich. Eine Grenze ist dann erreicht, wenn moralisch relevante Ansprüche verletzt werden. Also An­sprüche, die wir haben, nur aufgrund dessen, dass wir Menschen sind.

Zum Beispiel?

Wenn es etwa um Stellenabbau und Jobverluste geht. Die Menschen haben einen moralisch relevanten Anspruch darauf, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Darin liegt zum Beispiel auch die ethische Begründung für den Sozialstaat. Die Ethik kann aber auch eine Hierarchie moralisch relevanter Ansprüche begründen. Das moralische Recht auf Leben ist wichtiger als das Recht, ein Einkommen zu generieren.

Stützt das nicht den Aktivismus der „Letzten Generation“? Danach ist kein gutes Leben auf einem überhitzten Planeten möglich. Deshalb ist der Protest in den Augen der Akt­ivis­t*in­nen auch wichtiger als der Anspruch der Pendler*innen, zur Arbeit zu kommen.

Es ist etwas dran an dem Argument: Lebenswertes Leben auf einem zu heißen Planeten ist schwer vorstellbar. Die Frage bleibt, wie ich mit den moralisch relevanten Ansprüchen von anderen umgehe. Man muss auch selbst schauen, was man fordert – und das innerhalb der Grenzen des Rechtsstaats.

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