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: Es geht um Definitionsmacht

Wer Identitätspolitik komplett ablehnt, verkennt: Es spielt eben doch eine Rolle, welchen Hintergrund eine Person hat, die eine Meinung äußert

Es wäre schön, wenn die Gesellschaft so weit wäre, dass überall alle sie selbst sein dürften. Ist sie aber leider nicht

Es gibt unter einigen Linken ein Unbehagen gegenüber Identität. Wenn sich gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu Gruppen zusammenschließen und für die eigenen Rechte kämpfen, heißt es oft, der Fokus gehe weg vom Wesentlichen. Es drehe sich nicht mehr ums Gemeinwohl, sondern um Partikularinteressen, so die Kritik. Zugespitzt wird sie dann häufig so: Es bildeten sich so homogene Gruppen von Opfern, die alle anderen – die potenziellen Täter – ausschlössen.

Hier geht das Unbehagen über in eine strikte Ablehnung von identitätspolitischen Komponenten. Zuletzt formuliert hat das der Autor Matthias Lohre in der taz am Wochenende. Er beschwert sich darüber, dass auf Mikro-Aggressionen hingewiesen wird, also auf kleine alltägliche Akte, die etwa für Schwarze diskriminierend wirken, aber Weißen meist nicht auffallen. Diese Sichtbarmachung von Diskriminierung sei selbst diskriminierend, schreibt Lohre. Er versteigt sich sogar zu der These, Minderheiten würden sich zu moralisch überlegenen Opfern stilisieren.

Wenn es um alltägliche Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen geht, melden sich schnell Gegenstimmen – Männer, die auch schon einmal von einer Frau betatscht wurden, Weiße, denen auch schon mal ins Haar gefasst wurde. Es könnte zu denken geben, dass Kommentare und Texte dieser Art meist von weißen, deutschen, heterosexuellen Männern geschrieben wurden, also gesellschaftlich mehrfach privilegierten Menschen. Doch darum soll es hier nicht gehen. Es soll nicht darum gehen, warum einige Leute so etwas denken, sondern warum diese Meinung kurzsichtig, egozentrisch und bequem ist, letztendlich unsolidarisch und reaktionär.

Denn es wird so getan, als lebten wir in einem luftleeren Raum, in dem alle Menschen die gleichen Erfahrungen haben, die gleichen Perspektiven, die gleichen Lebensbedingungen. Auch Matthias Lohre erinnert in seinem Text an die US-Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre, wo angeblich so erfolgreich das „gemeinsame Menschsein von Schwarzen und Weißen, Frauen und Männern“ betont worden sei. Schön, oder? Wir rufen einfach: „Wir sind doch alle Menschen!“ Diskriminierung abgeschafft, Unterschiede auch.

Das Problem ist, dass die gesellschaftliche Realität anders aussieht. Die Normen in dieser Gesellschaft sind real und auch die daraus resultierenden Machtstrukturen. Die Norm ist weiß, männlich, heterosexuell, nicht behindert. Frauen verdienen weniger als Männer. Wohnungen gehen eher an Leute, die Müller oder Schmidt heißen, nicht Özdemir oder Kutrapali. Weiße Menschen bekommen eher den Job als nichtweiße. Die Suizidrate unter queeren Jugendlichen ist immer noch ein Vielfaches höher als die unter heterosexuellen (ganz zu schweigen von trans Jugendlichen).

Wie geht man mit diesen Missständen um? Es wäre ja schön, wenn die Mehrheit der Minderheit beispringen würde. Wenn Männer für Frauen auf die Straße gingen, Weiße für Schwarze, Heten für Homos, cis Menschen für trans Menschen, nicht Behinderte für Behinderte. Tun sie das? Sehr selten. 2017 gab es in den Niederlanden nach einem Übergriff auf ein schwules Pärchen die Aktion #allemannenhandinhand, bei der Menschen gleichen Geschlechts in der Öffentlichkeit Händchen hielten – unabhängig von der sexuellen Orien­tierung. Meist sind es die gesellschaftlich diskriminierten Gruppen selbst, die auf ihre Diskriminierung aufmerksam machen müssen, weil es die anderen offenbar kaum schert, weil es sie einfach nicht betrifft.

Frauen mussten sich als Frauen zusammenschließen, um Anfang des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht zu erkämpfen. Schwarze mussten als Schwarze auf die Straße gehen, um in den USA die gleichen Rechte zu bekommen. Lesben und Schwule mussten lange demonstrieren, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass sie nicht krank sind und dass sie darüber hinaus als Paare die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten wie gemischtgeschlechtliche Paare. Die Beispiele zeigen: Die existierende Benachteiligung konnte nur sichtbar gemacht werden, indem eine diskriminierte Gruppe auf sich aufmerksam machte, Raum einforderte. Deswegen gibt es auch ganz konkret Frauenräume, in die Männer nicht reindürfen. Deswegen gibt es Homo-Partys, auf die keine Heteros gelassen werden.

Es wäre schön, wenn die Gesellschaft so weit wäre, dass überall alle sie selbst sein dürften. Ist sie aber leider nicht. Darauf zu reagieren ist ein Akt der Selbstverteidigung, der Selbstbehauptung, der Selbstermächtigung. Uns gibt es. Wir sind es wert, dass wir von der Norm abweichen dürfen und nicht im normierten Mainstream unter­gehen. „Ich leide, also bin ich“, übersetzt Matthias Lohre das. „Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit“, schreibt er weiter und verkennt vollkommen das Problem: Für ihn ist es problematisch, dass eine Person ihre Benachteiligung öffentlich macht – nicht, dass sie überhaupt benachteiligt wurde. Wäre es aber nicht angebrachter, ihr zuzuhören und dann mit ihr gemeinsam gegen diese Benachteiligung zu kämpfen?

Es geht hier aber um etwas, das auch „Definitionsmacht“ genannt wird. Wer den gesellschaftlichen Normen entspricht, erlebt nicht, was passiert, wen man ihnen nicht entspricht. Eine Weiße erlebt im Alltag eben nicht, was eine Schwarze im Alltag erlebt. Um das zu erfahren, muss die Weiße vor allem eines: zuhören. Und sich die eigenen Privilegien bewusst machen. Genau das ist womöglich auch das Unbehagen, das viele Linke plagt. Es ist nicht die authentische Sorge, dass im Kampf für vermeintliche Partikularinteressen das große Ganze außer Sicht geraten könnte. Es ist die Befürchtung, dass es an der Zeit sein könnte, die eigenen Standpunkte kritisch zu hinterfragen.