Vorwurf russischer Kriegsverbrechen: „Ohne Grund erschossen“

Russlands Armee gibt die Belagerung von Kiew auf – und hinterlässt Bilder des Grauens: verwüstete Städte voller Leichen.

Leiche liegt auf dem Gehweg, alte Frauen gehen vorbei

Samstag, 2. April: Hunderte Zivilisten wurden in Butscha getötet Foto: Daniel Berehulak/NYT/Redux/laif

BERLIN taz | Die Leichen liegen in der Kanalisation, auf der Straße, vor den Häusern, unter Trümmern, im Sand. Manchen sind die Hände hinter dem Rücken gefesselt, manche sind halbnackt, manchen fehlen Körperteile. Seit sich Russlands Invasionsarmee Ende vergangener Woche aus dem Umland der ukrainischen Hauptstadt Kiew zurückgezogen hat, wird allmählich in Frontstädten wie Butscha der Horror sichtbar, den die russische Besatzung hinterlassen hat. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock fasst das weltweite Entsetzen am Sonntagmittag zusammen: „Die Bilder aus Butscha sind unerträglich. Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen.“

In Butscha fuhren Journalisten am Wochenende durch regennasse, verwüstete Straßen, übersät mit Toten. Reporter der Nachrichtenagentur AFP sahen am Samstag auf einer einzigen Straße in Butscha mindestens 20 Leichen liegen. Mehrere waren gefesselt, alle trugen zivile Kleidung. „Alle diese Menschen wurden erschossen“, Kopfschüsse, sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. Es stünden Autos auf den Straßen, in denen „ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer“.

Ein BBC-Reporter bestätigte die Angaben. Nach Angaben des Bürgermeisters mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe in Reichweite des russischen Militärs lagen. Serhii Kaplychnyi, Chef der Rettungsdienste der Stadt, zeigte AFP ein Massengrab hinter einer Kirche, wo seinen Angaben zufolge 57 Tote lagen.

Reporter der Nachrichtenagentur AP in Butscha zählten mindestens sechs tote Zivilisten entlang einer Straße und in einem Vorgarten: Opfer russischer Soldaten, sagten Überlebende. „Diese Leute sind einfach gelaufen und sie haben sie ohne jeden Grund erschossen“, sagte ein Anwohner. Eine Reporterin der britischen Sunday Times fand eine 80-Jährige aus Butscha, die sich in den Wald am Ortsrand geflüchtet hatte. Russische Soldaten hätten ihr in ihrem Haus zu essen gebracht, erzählte sie. Als sie abzogen, schaute sie nach den Nachbarn – die waren alle tot, an Händen und Füßen gefesselt. Die Territorialverteidigung fand später in der gleichen Straße einen Keller mit 18 verstümmelten Leichen, darunter ein 14-jähriges Kind.

Teil des Kriegsplans?

Wer die Toten von Butscha sind, wann und unter welchen Umständen sie zu Tode kamen – all dies ist momentan nicht bekannt und muss unabhängig untersucht werden, wie zahlreiche Politiker am Sonntag forderten. Manche der Leichen auf den Straßen sind nach ukrainischen Angaben möglicherweise zu Sprengfallen umfunktioniert worden. Ukrainischen Berichten zufolge wurden in Butscha alle Männer im Alter zwischen 16 und 60 – diejenigen, die für einen Einsatz in Armee oder Territorialverteidigung in Frage kommen – von russischen Soldaten vor deren Abzug hingerichtet.

Butscha ist kein Einzelfall, da sind sich ukrainische Politiker sicher. Auch aus anderen Orten, aus denen sich russische Soldaten zurückgezogen haben, werden Gräueltaten berichtet. Ärzte im südukrainischen Saporoschschje, wo Gerettete aus dem belagerten Mariupol landen, berichteten am Wochenende von vergewaltigten Kindern mit horrenden Unterleibsverletzungen. Russland sei schlimmer als der sogenannte Islamische Staat, sagte Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba am Sonntag in einem Interview.

Aus ukrainischer Sicht sind Tötungen wie die in Butscha keine spontane Tat, sondern geschehen auf Befehl, als Teil eines Kriegsplans. Sergej Sumlenny, ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, schrieb auf Twitter, er sei davon überzeugt, dass die Russen Massenhinrichtungen geplant hatten: „Russland plante, Kiew innerhalb von drei Tagen zu erobern, gefolgt von der Kapitulation der Ukraine. Den russischen Armeeeinheiten folgte Antiaufstandspolizei zu Tausenden. Die russische Armee erwarb 45.000 Leichensäcke und brachte mobile Krematorien mit.“ Er verweist darauf, dass am 1. Februar in Russland neue staatliche Richtlinien zum militärischen Anlegen von Massengräbern in Kraft traten: wie man Gräber aushebt, mit chemisch behandelten Leichen befüllt und dann zuschüttet und planiert. In Gruppen von 16 Soldaten soll Russlands Militär in der Lage sein, alle drei Tage ein Massengrab für 1.000 Menschen anzulegen.

Das Ergebnis von Brutalisierung oder Fehlverhalten

Militärforscher Jack Watling vom Londoner „Royal United Services Institute“ (RUSI) schreibt: „Zu sagen, Butscha sei das Ergebnis von Brutalisierung oder Fehlverhalten, ist falsch. Dies war der Plan. Es passt zu russischen Methoden in Tschetschenien. Wäre das russische Militär erfolgreicher gewesen, gäbe es viel mehr solche Städte. Dieser Kontext – die Ukrainer wussten, dass es Truppen gab, die sich auf solche Taten vorbereiteten, und der Kreml beschrieb die Existenz der Ukraine als Unfall der Geschichte – erklärt auch, warum der ukrainische Widerstand so entschlossen ist. Sie sehen das als Kampf um ihre Existenz.“

Die russische Offensive Richtung Kiew war in der vergangenen Woche zusammengebrochen. Erst verlor Russland die nordwestliche Vorstadt Irpin; in der Nacht zum Freitag gab der ukrainische Generalstab bekannt, bis zu fünf russische Kampfgruppen seien nach Belarus zurückgezogen worden. Zahlreiche Fotos und Videoaufnahmen belegten im Laufe des Freitags die Rückkehr ukrainischer Truppen in von Russland aufgegebene Orte, die zuvor wochenlang umkämpft gewesen waren – darunter Butscha. Auch auf der östlichen Seite des Dniepr-Flusses zogen sich russische Streitkräfte weiträumig auf russisches Gebiet zurück.

Laut „Institute for the Study of War“ (ISW) aus den USA sind von 75 in der Ukraine eingesetzten russischen Kampfgruppen (Battalion Tactical Groups) nach ukrainischen Angaben vom Samstag 16 „vollständig zerstört“ und 34 „degradiert“ und kampfunfähig. Russland konzentriert seine verbleibende Feuerkraft jetzt auf den Osten der Ukraine. Beide Seiten meldeten am Wochenende die bisher schwersten Kämpfe an den Frontlinien im Donbass.

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