Geflüchtete aus Tschetschenien: Nie wieder zu Hause, nirgends

Die Tschetschenin Salima musste im Krieg 1995 ihre Heimat verlassen. Jetzt fühlt sie mit den Menschen in der Ukraine mit.

Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand läuft durch eine Trümmerlandschaft

Trümmern in Grosny nach Ende des ersten Tschetschenienkrieges, 22. Juni 1995 Foto: reuters

Salima musste ihre Heimatstadt Grosny im April 1995 verlassen, nach dem Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges. Bei Kriegsbeginn war sie 20 Jahre, Studentin der Fachrichtung Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der staatlichen tschetschenischen Universität. Von ihrem Zuhause erzählt sie liebevoll, erinnert sich an viele Details. An die Akazien- und Fliedersträucher im Hof, an die Farbe der Bänke, die dort standen, und an das Geräusch, mit dem sich das grüne Tor öffnete.

„Das ist so merkwürdig: ich lebe schon 27 Jahre nicht mehr dort, bin mehrmals umgezogen, aber keinen dieser Orte habe ich als Zuhause betrachtet. Nicht an einen dieser Orte kann ich mich so detailliert erinnern wie an mein Zuhause in Grosny“, sagt die Frau.

Salima ist das älteste von fünf Kindern, zu Kriegsbeginn waren die anderen noch nicht volljährig. Deswegen haben die Eltern nur mit ihr über ihre Pläne gesprochen: Sie wollten ihr Land nicht verlassen … Sie planten nichts, bis zum Tod des Vaters.

„Papa ist an einem dieser Tage zu unseren Nachbarn gegangen, um ihnen zu helfen, ein Dach zu reparieren, das von einer Rakete getroffen wurde. Und dann ist wieder eine Rakete dort eingeschlagen … Ich war an diesem Tag bei Verwandten, und als man mir das erzählte, habe ich es einfach nicht geglaubt. Ich dachte, das sei irgendein blöder Witz. Denn wie ist so was möglich: Ein Mensch geht los, um ein Dach auszubessern, in das eine Rakete eingeschlagen ist, und genau in diesem Augenblick folgt ein zweiter Raketeneinschlag?“ Während sie darüber spricht, beginnt Salima zu weinen.

Am 9. Mai 2022 jährt sich zum 77. Mal der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ über Nazi-Deutschland. Diesen Tag beging schon die Sowjetunion, und Russland feiert das Kriegsende heutzutage mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Doch was hat der Kreml in diesem Jahr zu feiern? Seit 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Kampf tobt aber auch an der Heimatfront: Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die versuchen der staatlichen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Mit allen Mitteln wird versucht diese Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Novaya Gazeta, ist von diesen Repressionen betroffen. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um die Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden.

Angesichts von Zerstörung, Flucht, Elend, Tod und wachsendem Hass braucht es ein Zeichen der Solidarität. Auf Initiative der taz Panter Stiftung bringen wir zum Jahrestag Texte der Novaya Gazeta Europe heraus auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch. Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Alle Texte erscheinen in der taz vom 9. Mai 2022 und online hier.

Gemeinsam mit ihrer Mutter beschloss sie, zu flüchten

Die Entscheidung, das Land zu verlassen, trafen sie zu zweit, Salima und ihre Mutter. Die einzige Möglichkeit war, zu Verwandten ins benachbarte Inguschetien zu fahren. Sieben Tage nach dem Tod des Vaters begann Salima zu packen.

„Es war furchtbar schwer. Das Haus, das wir mit so viel Liebe gebaut hatten; das Haus, in dem unsere Großeltern, die die Deportation von 1944 überlebt hatten, sich zum ersten Mal sicher gefühlt hatten, das Haus, in dem alles an meinen Vater erinnerte, mussten wir völlig überstürzt verlassen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob wir jemals zurückkommen oder nicht. Aber ich erinnere mich sehr gut daran, was ich damals gedacht habe: Verdammt, im Mai blüht der Flieder und ich werde das nicht sehen“, erinnert sich Salima.

Bis heute bewahrt sie die Dinge auf, die sie damals aus Grosny mitgenommen hat: den Handspiegel ihrer Großmutter, ein Frotteekleid, das Hochzeitskleid ihrer Mutter und das Stoffkaninchen ihrer jüngsten Schwester.

„Mama sagte: Salima, nimm nur das Wichtigste mit. Wie schon unsere Vorfahren hat sie Knoten ins Bettlaken gemacht und dort Mehl, Zucker, Getreide und Kleidungsstücke hineingepackt. Ich war eine dumme 20-Jährige und dachte deshalb, ich sollte Erinnerungsstücke mitnehmen, und alles Wichtige, Erwachsene und Verantwortungsvolle habe ich einfach Mama überlassen.

Ich habe Papas Notizheft, Mamas Hochzeitskleid, Omas Spiegel mitgenommen … Mir scheint, das ist ein sehr merkwürdiges Flüchtlingsgepäck. Aber heute ist mir Mama dankbar dafür. Sie lebt in Deutschland, ich habe ihr all diese Dinge gegeben und sie sind jetzt die einzige Verbindung zu unserem vergangenen guten und sorgenfreien Leben“, sagt Salima lächelnd.

Einige Monate nachdem sie alles verlassen hatten, wurde Salimas Haus, so erzählt sie, zerbombt und dem Erdboden gleichgemacht. In ihre Heimat sind sie nie zurückgekehrt: zuerst, weil die Kampfhandlungen andauerten, später, weil sie mit der aktuellen Regierung der ­Republik nicht einverstanden waren.

„Einmal habe ich Bekannte aus Tschetschenien gebeten, in unsere Straße zu gehen und Bilder für mich zu machen, aber das war keine gute Idee“, erzählt Salima. „Das ist schon nicht mehr meine Heimat. Dort stehen irgendwelchen pompösen Häuser, nicht mehr die kleinen, gemütlichen, die es früher gab. Ich habe mich einfach an den Gedanken gewöhnt, dass gerade diese Häuser im besten Sinne die sind, die ich nicht mehr haben werde.

Jetzt ist es schmerzhaft zu sehen, dass die Ukrainer in genau der gleichen Situation sind. Wenn ich mir die zerstörten Wohnblocks in Mariupol ansehe, dann bin ich in Gedanken sofort wieder in meiner Heimatstadt, wo alles genauso aussah. All diese Mil­lio­nen Menschen werden genau wie ich ihr ganzes Leben spüren, dass sie nie wieder irgendwo zu Hause sein werden.“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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Am 7. April wurde der Chefredakteur der Zeitung, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, in Moskau attackiert. Die Angreifer wurden gefasst, aber die russischen Behörden werden sie nicht juristisch belangen. Der Journalistenberuf ist in Russland praktisch verboten, die russische Gesellschaft durch Hass und Denunziantentum vergiftet. Wir, das Team der Novaya Gazeta Europe, haben das Land verlassen, um unsere Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden. Wir wissen, dass es Millionen von uns gibt, auf beiden Seiten der Grenze, die jetzt wieder durch Europa geht. Menschen, die sich auf Russisch gegen den Krieg aussprechen – das sind unsere Leser und Autoren.

Die pro-europäischen und pro-ukrainischen Russen, die in ihrer Heimat mit der ständigen Angst vor Verhaftungen leben, oder im Exil außerhalb Russlands leben, ohne Arbeit und Zuhause – sie haben jetzt ein bisschen Zeit, zu jammern und zu klagen. Alle unsere Gedanken sind bei den Ukrainern. Wir wissen um die moralische Verpflichtung, die wir gegenüber den Menschen in der Ukraine haben.

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Kirill Martinow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe

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