Streit über EU-Asylpolitik: Scholz spricht offenbar Machtwort
Bundeskanzler Scholz hat laut Medien entschieden, der EU-Asylkrisenverordnung zuzustimmen. Menschenrechtsgruppen sind entsetzt.
Aus Kreisen der Grünenfraktion im Bundestag hieß es am frühen Mittwochabend allerdings, die Verhandlungen liefen noch. Ob diese Verhandlungen allerdings tatsächlich Fortschritte bringen, müsse sich erst noch zeigen. Auch der Grünen-Politiker Erik Marquardt stellte die Berichte über ein „Machtwort“ auf der Plattform X (ehemals Twitter) in Frage.
Empfohlener externer Inhalt
Die Krisenverordnung fasst verschiedene Regelungen zusammen, die in Ausnahmesituationen an den Außengrenzen gelten sollen. Gemeint sind etwa Fälle, in denen sehr viele Geflüchtete in der EU Asyl beantragen oder Situationen, wie die an der Grenze zu Belarus, dessen autoritäres Regime Geflüchtete gezielt einfliegt und nach Polen und die baltischen Staaten schickt, um Druck auf die EU auszuüben. In solchen Situationen sollen nach der Krisenverordnung zahlreiche Regeln ausgesetzt und Standards abgesenkt werden können.
So sollen etwa sehr viel mehr Geflüchtete sehr viel länger in die umstrittenen Prüfverfahren genommen werden können, die an den EU-Außengrenzen geplant sind. Das soll auch für Kinder und andere besonders vulnerable Gruppen gelten, für die es ansonsten eigentlich Ausnahmeregelungen gibt. Auch die Mindeststandards für die Unterbringung der Geflüchteten sollen in solchen Situationen deutlich niedriger sein.
Noch im Juli wollte die Bundesregierung einen Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft für die Krisenverordnung nicht unterstützen. Die EU-Staaten konnten sich deshalb nicht für Verhandlungen mit dem Europaparlament positionieren. Das Europaparlament kündigte in der vergangenen Woche deshalb an, andere Teile der Verhandlungen über die geplante Asylreform bis auf Weiteres zu blockieren.
Die Bundesregierung war mit ihrer bisherigen, ablehnenden Haltung in den letzten Wochen zunehmend unter Druck anderer europäischer Staaten geraten. Diese machten vor allem Berlin dafür verantwortlich, dass notwendige Verhandlungen mit dem Europaparlament stockten, und forderten sie auf, nachzugeben, damit die Reform des Europäischen Asylsystems noch vor der Europawahl beschlossen werden kann.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Mittwoch noch einmal an alle Parteien appelliert, ihren Streit beizulegen. Es brauche eine schnelle politische Einigung. Auch die Präsidentin des Europaparlaments, Roberta Metsola, rief die Mitgliedsländer am Mittwoch auf, das gemeinsame Asylsystem nach jahrelangem Streit unter Dach und Fach zu bringen. Beim Treffen der EU-Innenminister in Brüssel an diesem Donnerstag müssten „alle Anstrengungen unternommen werden, den Knoten zu durchschlagen“, sagte die 44-Jährige.
An einer Reform des Asylsystems wird seit vielen Jahren gearbeitet. Befürworter des jetzigen Kompromisses argumentieren mit dem Zeitdruck angesichts der nahenden Europawahlen. Sollte sie vor der nahenden Europawahl im Juni 2024 scheitern, wäre dies ein großer Rückschlag, der rechten Parteien wie der AfD weiteren Auftrieb geben würde. Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden und sich wieder verzögern.
Baerbock warnte vor Krisenverordnung
Außenministerin Annalena Baerbock hat noch am Montag eindringlich vor der Einführung der sogenannten Krisenverordnung gewarnt. Dieser würde die Reform des EU-Asylrechts, auf die man sich gelingt hatte, wieder „chaotisieren“ und den Ermessensspielraum einzelner Länder erweitern. Sollte – wie etwa 2015 – eine besonders großen Zahl von Menschen bei ihnen Zuflucht suchen, könnten sie sehr flexible Maßnahmen treffen. Das würde solche Länder de facto auch wieder dazu ermuntern, große Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland weiterzuleiten, so Baerbock.
Menschenrechtsorganisationen warnen seit Monaten vor der Krisenverordnung. Entsprechend groß war am Mittwoch die Empörung über die Entscheidung von Kanzler Scholz. Die rechtspolitische Sprecherin von ProAsyl, Wiebke Judith, sagte der taz: „Die Bundesregierung knickt vor den rechten Agendasettern in der EU ein.“ Es sei „dramatisch“, dass die menschenrechtlichen Bedenken gegen die Krisenverordnung von Scholz einfach „zur Seite gewischt“ worden seien. Es drohe ein weiterer Einbruch bei den menschenrechtlichen Standards an den EU-Außengrenzen.
Aktualisiert am 27.09.2023 um 17:46 Uhr. d. R.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel