Handel mit Schengen-Visa in Polen: Erklärungsnot – kurz vor der Wahl

Polens Regierung steht wegen einer Visa-Schmiergeldaffäre unter Druck. Aber sie sorgt dafür, dass die Bevölkerung davon kaum etwas erfährt.

Ein Soldat patrouilliert an einem hohen Metallzaun entlang

Ein Soldat läuft am Grenzzaun auf der polnischen Grenze zu Belarus entlang in Jałówka Foto: Fabian Sommer/dpa

WARSCHAU taz | Die offiziellen Zahlen der Visa-Korruptionsaffäre waren nur kurz online auf der Website des polnischen Außenministeriums abrufbar. Wöchentlich veröffentlicht das Rechercheportal Demagog Factchecking-Berichte, und dort ist die „Ghost Site“ noch im Internetarchiv zu finden.

Und Polens Gesellschaft hat Probleme, die Affäre richtig einzuordnen. Zwar ist einer repräsentativen Umfrage des Instituts IBRIS zufolge knapp die Hälfte der Polen überzeugt, dass „die ganze Regierung“ an der Visa-Korruptionsaffäre schuld sei, aber über 30 Prozent versteht gar nicht, worum es überhaupt geht oder hat noch nie von der Affäre gehört.

Das liegt auch daran, dass der Staatssender TVP und die anderen PiS-nahen Medien sehr wenig über die Affäre berichten, und wenn, dann im Ton der Anklage gegen die Opposition. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verlangt von Polen umfassende Aufklärung über die Visavergaben in polnischen Konsulaten in Asien und Afrika.

Viele der mit polnischen Arbeitsvisa ausgestatteten Migranten aus Asien und Afrika traten in Polen nie Jobs an

Auch in der belarussischen Hauptstadt Minsk soll es möglich gewesen sein, polnische Visa gegen Schmiergeld zu erhalten. Polens Außenministerium soll der Europäischen Kommission bis zum 3. Oktober elf Fragen zur Visa-Affäre beantworten, also bis zwölf Tage vor den Wahlen in Polen. Welche Konsequenzen drohen, sollte Warschau die Frist verstreichen lassen, ist nicht bekannt.

Migranten werden jeden Abend als Kriminelle präsentiert

Junge schwarze Männer, die Messer schwingen und Steine schmeißen, kilometerlange Karawanen „Illegaler“, die nach Europa ziehen, wieder Schwarze, die wutentbrannt die Straßen von Paris anzünden, Autos zertrümmern und Läden plündern. Diese Bilder zeigt Polens Staats- und Propagandafernsehen TVP fast jeden Abend in den Hauptnachrichten. Dann ein Schnitt und Bilder vom fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun mit der Stacheldrahtrolle obendrauf und Grenzsoldaten, die entlang dieser sicheren polnisch-belarussischen Grenze patrouillieren.

Das Problem: die Bilder haben nicht viel mit der Realität zu tun. Unter der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist Polen zum neuen Tor für irregulär Geflüchtete in die Europäische Union (EU) geworden. Viele Migranten kommen dabei mit einem polnischen Arbeitsvisum in die EU, das sie bei korrupten Vermittlern und polnischen Konsulatsangestellten in Asien und Afrika gekauft haben.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz gegen die nur schleppend anlaufenden Ermittlungen in Polen protestierte, reagierte der polnische Außenminister Zbigniew Rau beleidigt: „Die Kanzlerkompetenz erstreckt sich nicht auf ein in Polen laufendes Verfahren.“ Scholz solle sich nicht in die inneren Angelegenheiten Polens und den dort laufenden Wahlkampf einmischen, schrieb Rau auf der Social-Media-Plattform X.

Auch Justizminister Zbigniew Ziobro fühlte sich düpiert: „Das ist eine außergewöhnliche Frechheit!“. Kulturminister Piotr Glinski beschwerte sich: „Deutschland will in Europa regieren und alle belehren. Das können wir nicht zulassen!“ Dann rief auch noch Premier Morawiecki in einer Wahlveranstaltung dem weit entfernten Amtskollegen zu: „Olaf! Misch Dich nicht in unsere Angelegenheiten ein!“

Dabei hatte Scholz lediglich gesagt: „Ich möchte nicht, dass aus Polen einfach durchgewinkt wird und wir dann hinterher die Diskussion führen, über unsere Asylpolitik.“ Vielmehr müsse es so sein, „dass, wer in Polen ankommt, dort registriert wird und dort ein Asylverfahren macht“ – und nicht Visa, die irgendwie für Geld verteilt worden seien, das Problem noch vergrößerten.

Um 156 Prozent ist Einwanderung gegenüber 2022 gestiegen

Hintergrund seiner Kritik sind die über 18.000 Migranten, die seit Jahresbeginn aus Polen kommend in Deutschland um Asyl gebeten haben. Das ist gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 156 Prozent. Warum Deutschland die meisten dieser Asylbewerber nicht nach Polen als sicherem Erstaufnahmestaat zurückweist, ist unklar.

Für Polens demokratische Opposition, sei dies nun die liberalkonservative Bürgerplattform (PO), das Mitte-Rechts-Parteienbündnis Dritter Weg (Trzecia Droga) oder Die Linke (Lewica), kommt die Affäre wie gerufen. Am 15. Oktober stehen Parlamentswahlen an. „Dies ist die größte Affäre Polens in diesem Jahrhundert“, ruft Donald Tusk von der PO auf allen Wahlkampfveranstaltungen. Da verkünde die PiS großartig als Wahlkampfmotto, „Eine sichere Zukunft der Polen“, bringe dann aber mit ihrer Migrationspolitik nicht nur Polen, sondern gleich ganz Europa in große Gefahr.

Szymon Holownia vom Dritten Weg ist überzeugt: „Das ist keine Korruptions-, sondern eine Schleuser-Affäre. Wir alle erinnern uns an die brutalen Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze. Und heute wissen wir, dass diese Leute einfach Pech hatten und ihre Eintrittskarte in die Europäische Union beim falschen Schleuser gekauft hatten.“ Dass eine polnische Regierung selbst als Schleuser tätig würde, sei bis vor Kurzem noch unvorstellbar gewesen.

Włodzimierz Czarzasty von der Linken warf dem PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński vor: „Dein Bruder hat uns in den Schengen-Raum geführt, und Du führst uns wieder hinaus!“

Schmiergeldzahlungen für Visa

In den letzten zweieinhalb Jahren hat Polen laut Außenministerium fast zwei Millionen Visa ausgestellt, davon 1,5 Millionen an Ukrainer und Belarussen. Knapp 375.000 Visa erhielten Bürger anderer Staaten. Dabei stammen die drei größten Gruppen aus der Türkei (51.000), Russland (knapp 45.000) und Indien (44.000). Danach folgen Bürger aus Kasachstan, Usbekistan, Georgien, den Philippinen, China, Moldawien, Aserbaidschan und Armenien.

Die Vorwürfe in der Visa-Korruptionsaffäre beziehen sich allein auf polnische Konsulate in Asien und Afrika. Dort wurden in den letzten 30 Monaten 250.000 Visa ausgestellt. Die Zahl irregulär aufgrund von Schmiergeldzahlungen ausgestellten polnischen Visa kennt zurzeit niemand.

Die Papiere erlauben einen zeitlich befristeten Aufenthalt in Polen und das Reisen in alle Schengen-Staaten. Mehrfach-Visa Polens ermöglichen die Einreise nach Mexiko, von wo aus etliche Migranten illegal in die USA eingereist seien. Washington habe sich darüber in Warschau beschwert, heißt es in unabhängigen Medien Polens.

Viele der mit polnischen Arbeitsvisa ausgestatteten Migranten aus Asien und Afrika traten in Polen nie Jobs an. Da tausende Antragssteller offenbar kaum oder gar nicht überprüft wurden, ist unklar, ob sie eine potenzielle Gefahr darstellen. Niemand weiß, wo die Menschen sich aktuell aufhalten.

Polen hat inzwischen den meisten Visa-Agenturen gekündigt, gibt offiziell aber den Schwarzen Peter an die Slowakei weiter. Die neue Balkanfluchtroute verlaufe durch das Nachbarland. An der polnisch-slowakischen Grenze sollen nun Busse, Transporter und Lkws verstärkt kontrolliert werden.

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