Schwimmfähigkeit und soziale Herkunft: Mein langer Weg zum Seepferdchen

Ob ein Kind schwimmen kann, hängt vom Einkommen der Eltern ab. Unser Autor ertrank als Teenager fast und lernte es unter Gelächter doch noch.

Drei Kinder nebeneinander mit einer Nudel im Schwimmbad

Die Zahl der Grundschulkinder, die nicht schwimmen können, hat sich von 2017 bis 2022 bundesweit verdoppelt Foto: Funke Foto Services/imago

Das Schönste am Frühling sind die Frühlingsblumen. Und das Schönste am Sommer das Baden. Das war nicht immer so. Wenn mich jemand in der Schule blöd anmachte, bekam er eine schmerzhafte Entgegnung, weshalb sich wenige trauten, mich blöd anzumachen. Aber ich hatte eine Achillesferse: Schwimmen. Denn es gibt einen Grund, warum ich so viel Fußball gespielt habe: Ich konnte bis zu meinem 13. Lebensjahr nicht schwimmen.

Was ich verdrängt hatte, drängte sich auf, als ich vergangene Woche folgende Meldung las: Jede fünfte Grundschule in Baden-Württemberg – wo ich aufgewachsen bin – kann keinen Schwimm­unterricht anbieten, weil dafür Bäder oder Lehrkräfte fehlen. Dabei hat sich die Zahl der Grundschulkinder, die nicht schwimmen können, von 2017 bis 2022 bundesweit verdoppelt. Aktuell gibt es Zeichen der Besserung.

Aber laut einer Umfrage der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) aus dem Jahr 2022 hängt die Schwimmfähigkeit von Kindern stark vom Einkommen der Eltern ab: in Haushalten mit 4.000 Euro Nettoeinkommen und mehr können etwa zwölf Prozent nicht schwimmen, in solchen mit weniger als 2.500 Euro sind es knapp 50 Prozent.

Ich empfand das Nichtschwimmerleben zunächst als Privileg: Ich musste nicht mehr lügen, um den Unterricht zu schwänzen. Und durfte während der Doppelstunde Schwimmen mit meinen Freunden, die auch nicht schwimmen konnten, Quatsch im Nichtschwimmerbecken machen.

Aus dieser Freiheit, die wir mit breiter Brust und entsprechenden Rufen aus dem Nichtschwimmerbecken zelebrierten, während sich die anderen mit Kraul plagten, wurde irgendwann eine Schmach. Je weniger wir im Nichtschwimmerbecken wurden, desto verächtlicher wurden die Blicke der anderen.

„Bruder, spring einfach rein!“

Irgendwann schauten sie nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinne auf uns im Nichtschwimmerbecken herab, als sie auf Anweisung des Sportlehrers, der nie versucht hatte, uns das Schwimmen beizubringen, zielstrebig an uns vorbei zu den Startblocks eilten.

Weil ich nicht als der letzte Depp im Nichtschwimmerbecken enden wollte, bat ich einen alten Nichtschwimmergenossen, der zu den Schwimmenden aufgestiegen war, um Hilfe. Wir verabredeten uns zu einer Unzeit im Hallenbad, damit er mir ganz ohne Augenzeugen das Schwimmen beibringen konnte. Als wir vor dem Hinweisschild „Wassertiefe 3,9 Meter“ standen, sagte er:

„Bruder, jetzt spring einfach rein, dein Körper wird automatisch die richtigen Bewegungen machen, glaub mir!“

„Schwör!?“

„Ich schwör!“

Ich sprang rein, wartete auf die automatischen Schwimmbewegungen, aber es kamen panische, die alles schlimmer machten. Ich konnte mich nicht oben halten, schluckte Wasser, mein noch kurzes Leben zog an mir vorbei. Irgendwie rettete ich mich dann doch noch an den Beckenrand. Ich weiß nicht, wie.

Mit dem Kumpel habe ich danach nie wieder gesprochen und mich beim örtlichen Schwimmverein angemeldet. Das Schwimmen brachte mir dort ein netter alter Herr bei, der sonst die Fünfjährigen mit einem Stock, an dem sie sich festhalten konnten, die Bahnen entlangführte. An einem Mittwochabend, als gefühlt die halbe Schule im fortgeschrittenen Modus trainierte, hing ich an seinem Stock.

Doch verlor ich an diesem Abend endlich meine Angst vor dem Wasser. Und vor dem Gelächter der anderen.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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