Rücktritt der Bundesfamilienministerin: Das laute Schweigen der Grünen
Anne Spiegel wollte das Amt der Familienministerin nicht aufgeben. Die Spitzen-Grünen verzichteten aber darauf, sie öffentlich zu stützen.
Aber daraus wird erst mal nichts. Krisensitzungen und Telefonate laufen schon seit Sonntag. Vorstand, Kabinettsmitglieder, die Familienministerin selbst: In wechselnden Runden berät die Partei über die Krise. Es sind offenbar zähe Gespräche, auf jeden Fall bringen sie den Zeitplan durcheinander. Der Klausurstart verzögert sich um eine halbe Stunde, um eine Stunde, um zwei Stunden.
Es ist schließlich 14.37 Uhr, als weit weg, in Berlin, Anne Spiegel eine Pressemitteilung verschicken lässt: „Ich habe mich heute aufgrund des politischen Drucks entschieden, das Amt der Bundesfamilienministerin zur Verfügung zu stellen“, schreibt sie darin. Am Ende der Mail, unterstrichen, ein Hinweis: „Es besteht keine Möglichkeit für O-Töne bzw. Interviews.“ Bloß nicht noch mal Bilder wie am Vorabend.
Ricarda Lang und Omid Nouripour warten noch mal eine knappe Viertelstunde ab, bevor sie in Husum aus dem Tagungshotel treten. Im Halbkreis sind vor dem Gebäude schon die Kameras aufgebaut. Die beiden Parteivorsitzenden wirken müde, sie halten sich kurz. „Hinter uns als ganze Partei liegen schwierige Stunden“, sagt Lang. „Der Schritt, jetzt zurückzutreten, ist bei aller großen Härte und so schwierig diese Entscheidung auch war, richtig“, sagt Nouripour.
Seit Wochen in der Kritik
Aus seinen Worten lässt sich ablesen, dass sich Anne Spiegel aus der Partei in den Stunden zuvor viel hat anhören müssen – so lange, bis der Druck irgendwann doch größer wurde als ihr enormer politischer Ehrgeiz. „Große Härte“: Das kann man über Spiegels letzte anderthalb Tage im Amt sagen.
Anne Spiegel, ehemalige Bundesfamilienministerin
Schon seit Wochen stand die Grünen-Politikerin in der Kritik. Grund waren zunächst Fehler beim Krisenmanagement während der Flut in Rheinland-Pfalz, wo sie als Landesumweltministerin zuständig war. Am Sonntagmorgen erreichte der Druck ein neues Level, nach dem die Bild berichtet hatte, dass Spiegel zwei Wochen nach der Flut für vier Wochen in den Urlaub fuhr. Der Zeitung sagte sie zunächst, sie habe sich aus Südfrankreich zumindest per Video in Kabinettssitzungen zuschalten lassen. Stimmte nicht, was die ganze Sache noch schlimmer machte.
Mit einem Statement vor laufenden Kameras wollte sich Spiegel schließlich am Sonntagabend freikämpfen. Ein missglückter Versuch: Eine Politikerin am Rande ihrer Kraft stand da vor den Kameras, so erschöpft wie aufgewühlt. Anne Spiegel berichtete von privaten Problemen, über die sie bisher nicht öffentlich gesprochen hatte: den Schlaganfall ihres Mannes, die Härten der Pandemie für eine Familie mit vier Kindern und die Grenzen, an die sie alles zusammen neben ihren politischen Spitzenämtern brachte – im letzten Sommer und jetzt offensichtlich noch mal. Am Ende des Videos blickt sie suchend zur Seite, weiß nicht, wie sie ihre Erklärung beenden soll, versucht es dann mit einer Entschuldigung.
Rund sieben Minuten dauerte dieser Auftritt, und es war bedrückend, dabei zuzusehen: Weil das Statement schlecht vorbereitet war. Weil es Anne Spiegel offensichtlich schlecht ging. Und, auch, weil die Familienministerin dort schon am Sonntagabend sehr alleine dastand. Nach dem Bericht der Bild am Morgen herrschte bei den Grünen den ganzen Tag über Stille. Öffentlich erklang bis zum Abend keine einzige prominente Stimme, die ihr zur Seite sprang. Die sechs wichtigsten Grünen – Habeck, Baerbock, die Fraktionschefinnen Dröge und Hasselmann, dazu Lang und Nouripour – schwiegen auch den ganzen Montagvormittag noch. Intern sollen sie Spiegel allerdings schon am Vortag einstimmig zum Rücktritt geraten haben, irgendjemand lancierte das am nächsten Tag auch noch an die Bild. Viel deutlicher als durch dieses Schweigen kann man einer Parteifreundin nicht das Misstrauen aussprechen.
Gruseliger Chatverlauf
Im krassen Kontrast dazu: Die Unterstützungswelle, die nach Spiegels Auftritt vom Sonntag unter Grünen aus der zweiten Reihe startete. Volle Solidarität, hohe Moral. „Mütter können es nur falsch machen“, twitterte die Abgeordnete Nina Stahr. „Diese Debatte hat auch eine massiv frauenfeindliche Qualität“, schrieb ihr Kollege Sven-Christian Kindler. Und der Europaabgeordnete Michael Bloss: „Wenn die CDU es schafft, sie abzuschießen, können wir das mit Politik und Familie auch ganz lassen.“
Nicht komplett falsch lagen sie damit. Die komplette Geschichte ist dann aber doch noch vielschichtiger – angefangen mit Spiegels Krisenmanagement während der Flut. Die Irritationen über ihr Verhalten damals konnte sie mit ihrem Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags vor wenigen Wochen nicht auflösen. Dass ihr Ministerium noch am Nachmittag vor der Katastrophe in einer Pressemitteilung die trügerische Entwarnung verbreitet hatte, im Land sei „kein Extremhochwasser“ zu erwarten, konnte sie nicht wirklich erklären.
Das besonders stark betroffene Ahrtal kam in dieser Pressemeldung gar nicht vor, wohl aber die umfangreichen Maßnahmen zum präventiven Hochwasserschutz, die sich in dieser Nacht als unzureichend erweisen sollten. Eine spätere Warnung des Landesamts für Umwelt erreichte am Abend zwar einen von Spiegels Staatssekretären, aber nicht die Einsatzleitungen des Katastrophenschutzes.
In die parlamentarische Untersuchung sind die Ministerin und ihr damaliger Stab ohnehin mit einer gewaltigen Hypothek geschlittert. Aus den Akten des Untersuchungsausschusses war ein gruseliger Chatverlauf an die Öffentlichkeit gelangt. In den Stunden, als im Ahrtal noch Hubschrauber im Einsatz waren, um Menschen mit Seilwinden von Dächern und Bäumen zu retten, sorgten sich die Ministerin und ihr Pressesprecher wohl vor allem um Imagefragen. Sie tauschten sich über das richtige „Wording“ für die Öffentlichkeitsarbeit aus.
Am Ende nicht mehr tragbar
Wäre es nur das gewesen: Als Bundesministerin, neun Monate später, hätte es Spiegel wohl ausstehen können. Auch die Urlaubsreise, zwei Wochen nach der Flut angetreten, hätte – angesichts der privaten Umstände – vielleicht durchgehen können. Erschwerend kam nun aber die falsche Behauptung gegenüber der Bild-Zeitung hinzu; und ein ähnlicher Fall aus Nordrhein-Westfalen, wo CDU-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser gerade erst zurückgetreten ist – wegen eines Urlaubs rund um die Flutereignisse. Die beiden Fälle sind nicht eins zu eins zu vergleichen, die Latte für Spiegel war durch diesen Rücktritt aber gesetzt.
Auf jeden Fall: Für die führenden Grünen war die Ministerin am Ende nicht mehr tragbar, schon gar nicht jetzt vor den beiden wichtigen Landtagswahlen. Sie werden sich jetzt aber wohl mit neuen Fragen konfrontiert sehen: Lief es bei der Besetzung wie bei der Kür von Annalena Baerbock zur Spitzenkandidatin 2021? Nicht gut vorbereitet war ihre Kandidatur, auf mögliche Angriffspunkte hatte die Partei sie nicht gut genug untersucht. Als die erste Welle der Kritik auf sie einschlug, wegen Plagiaten und Lebensläufen, reagierten die Grünen konfus.
Bei der Zusammenstellung des Kabinetts im November, von Konflikten begleitet, nach anstrengenden Monaten des Wahlkampfs und der Koalitionsverhandlungen, fehlte die Sorgfalt dann wohl schon wieder. Dass Spiegel möglicherweise die falsche Besetzung ist oder dass man sich zumindest eine Strategie für den Fall überlegen müsste, dass Vergangenes wieder hochkommt – es fiel den Grünen offenbar nicht auf.
Misslich für die Partei, tragisch für die Familienministerin, die am Ende keine vier Monate im Amt war. „Voller Vorfreude und Tatendrang“ war sie im Dezember gestartet. Sie arbeite zu Themen, für die sie „brenne“, sagte sie zu ihrer Amtseinführung. Sie habe sich viel vorgenommen: die Kindergrundsicherung, einen Gleichstellungscheck von Gesetzesvorlagen im Kabinett, die Abschaffung des Paragrafen 219a.
Unvollendete Aufgaben für andere
Nicht viel später allerdings machte eine Covid-Erkrankung Spiegel einen ersten Strich durch die Rechnung. Am 24. Februar wurde sie positiv getestet. Als in einer aktuellen Stunde im Bundestag über die Flutkatastrophe auch über Spiegel selbst debattiert wurde, konnte sie nicht anwesend sein. Noch vier Wochen später schrieb sie in einem Statement, die „schweren Covid-Symptome“ hätten ihr seitdem nicht erlaubt, Termine wahrzunehmen. Noch immer leide sie an Symptomen.
Immerhin aber nahm sie nach und nach die Arbeit wieder auf. Gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil brachte sie zunächst den Sofortzuschlag auf den Weg, den Vorläufer der Kindergrundsicherung: Mit tatsächlich nur 20 Euro monatlich sollen von Armut betroffene Kinder ab Juli unterstützt werden. Seitdem sie wieder im Dienst war, arbeitete Spiegel unter anderem zur Ukraine, richtete eine Koordinierungsstelle zur Aufnahme ukrainischer Waisenkinder ein, kümmerte sich um deren Aufnahme.
Die unvollendeten Aufgaben: Um sie wird sich nun jemand anderes aus der Partei kümmern müssen. Einfach wird die Auswahl wieder nicht. Proporze sollten berücksichtigt werden, das Geschlecht, der Parteiflügel. Schnell soll es gehen. Aber einen Kopf dafür haben am Montag noch nicht alle in der Partei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland