Rassismus gegen Russen im Ukraine-Krieg: Kein Ork-Volk
Die Gewalt der russischen Armee erschüttert. Doch auch in Russland gibt es sehr verschiedene Menschen, von denen viele selbst denken können.
I n Kriegszeiten dämonisieren Menschen ihre Gegner vielfach. Die russischen Invasoren werden von den Ukrainern beispielsweise als „Orks“ bezeichnet. Das ist verständlich, bedenkt man die Brutalität und Sinnlosigkeit des Angriffskrieges, unter dem sie zu leiden haben.
Aber so nachvollziehbar das ist, so gefährlich ist es auch. Denn diese Dämonisierung verzerrt den dringend nötigen Sinn für Realitäten. Auch in den deutschen Medien vermehren sich zurzeit die Beiträge, die die russische Gesellschaft mehr oder weniger darstellen, als wäre sie eine von Orks.
Orks sind dunkelhäutige, sehr muskulöse Wesen aus diversen Fantasieromanen. Sie sind allesamt extrem aggressiv, egoistisch und meist auch dumm. Schon ihre Kinder werden zur Gewalt erzogen. Entscheidend ist: Sie sind so. Alle. Ihre „Kultur“ ist eben so, könnte man sagen.
Auch die russische Gesellschaft „scheint“ eben so zu sein, glaubt man beispielsweise der in den letzten Monaten so oft wiederholten Behauptung, 70 bis über 80 Prozent der russischen Bevölkerung stünden stramm hinter Putin.
Ergänzend erscheinen seit Beginn des Krieges immer wieder Medienbeiträge, die „die russische Kultur“ darstellen, als wäre diese ein Programmiercode, der „den Russen“ eingeschrieben ist und sie lenkt.
„Die Russen“ seien halt eine kollektivistische Gesellschaft und müssten erst lernen, selbstständig zu denken, hieß es beispielsweise in der taz. Andere behaupten dagegen, in Russland herrsche ein „aggressiver Individualismus“. Wieder andere schreiben, die Russen seien mehrheitlich eben abergläubisch, gewalt- und obrigkeitshörig und überhaupt seit Langem sehr rückständig. Die Autor*innen solcher Texte haben oftmals selbst russische Namen. Und wenn die Russen das selbst sagen, dann wird es schon stimmen, denken sich die jeweiligen Redakteure vermutlich.
Ein weiterer taz-Artikel begründete die Gewalt der russischen Soldaten damit, dass sie „tief in Russlands Gesellschaft verankert“ sei. Überall setzten sich die Stärkeren mit Gewalt durch. „Die Menschen“ in Russland, so der Artikel, finden, dass Kinder abgehärtet gehören. Demütigung, Strafe, Brutalität. „Die Menschen“ heißt: alle. „Die Gesellschaft“ heißt: alle. Auch in deutschen Talkshows werden solche Behauptungen verbreitet.
Die gesamte russische Gesellschaft ist also durchsetzt von Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Eine Ork-Gesellschaft halt. Aber stimmt das denn auch? Unwahrscheinlich. So ist Kultur nicht und so sind Gesellschaften nicht.
Gerade die russische Gesellschaft ist divers: Sie besteht aus verschiedenen Klassen, Altersgruppen, Bildungsgruppen, Ethnien, politischen Strömungen, Leuten vom Land, Leuten aus den Metropolen. Es gibt in jedem Land verschiedene Menschen mit verschiedenen Meinungen. Dass eine Gesellschaft weniger individualistisch ist als westliche Gesellschaften, heißt nicht, dass deren Angehörige allesamt Vollidioten sind, die weder klar noch kritisch denken können. Darum ist es sinnvoll, skeptisch auf solche Behauptungen zu reagieren. Entsprechen sie den Fakten?
Dass bis zu 83 Prozent der Menschen in Russland für den Krieg seien, ist Unsinn. Das zeigen die teils heftigen Proteste gegen die Mobilmachung. Trotz der drakonischen Strafen, die bei solchen Protesten drohen.
Der Moskauer Soziologe Boris Kagarlizky, Direktor des russischen Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen, erklärt, dass meist nur diejenigen an den offiziellen, meist telefonischen Befragungen zum Krieg teilnehmen, die das erwünschte Ergebnis von vornherein unterstützten. Der allergrößte Teil lehnt eine Befragung ab, weil die Leute Angst vor Strafen haben.
Realistischer ist die Einschätzung, dass sich die russische Gesellschaft etwa in drei große Lager spaltet. Laut einem geleakten Dokument des staatsnahen Umfrageinstituts WZIOM sind etwa 30 Prozent der Menschen in Russland gegen den Krieg. Auch schon vor der Mobilmachung. Diese stammen eher aus den Metropolen und sie sind eher jung. Ein weiter Block gehört zu den „Cheerleader*innen“ des Krieges: Leute, die Krieg und Putin unterstützen. Der dritte, größere Block will seine Ruhe und ist politikfern. Für diese Verhältnisse gibt es verschiedene Gründe: Erfahrungen der Bevölkerung mit autoritärer Herrschaft, die extrem schlechte politische und wirtschaftliche Lage in den 90ern, Propaganda in den Medien und so weiter.
Junge russische Aktivist*innen ärgern sich auf Twitter, dass der fehlende Widerstand in der russischen Bevölkerung auf angebliche „Mentalitätsunterschiede“ zurückgeführt würde und nicht auf die systematische Zerstörung der Zivilgesellschaft. Das trifft es ziemlich genau.
Seriöse Medien sollten nicht leichtfertig ein Bild verbreiten, das zur Dämonisierung beiträgt. Die Behauptung von „der russischen Gesellschaft“, die angeblich ihre Kinder traumatisiert und brutalisiert, muss hinterfragt und präzisiert werden.
In dem Artikel über die gewalttätige russische Gesellschaft wird etwa als einzige harte Zahl erwähnt, dass mindestens ein Fünftel der Frauen in Russland Gewalt in der Partnerschaft erlebt haben. Das ist übel und sehr bekämpfenswert. Aber es belegt nicht die Behauptung, dass Gewalt die gesamte Gesellschaft durchsetzt. Laut einer repräsentativen Umfrage des Bundesfamilienministeriums erklärten auch in Deutschland im Jahr 2004 25 Prozent der Frauen, dass sie schon einmal Gewalt in der Beziehung erlebt haben.
Um es klarzustellen: Es kann sehr wohl sein, dass Gewalt in der russischen Gesellschaft ein größeres Problem ist als in Deutschland. Was mit Sicherheit ebenfalls wahr ist: Auch in Russland gibt es sehr verschiedene Menschen, von denen viele selbst denken können. Wer eine Gesellschaft darstellt, als wären deren Angehörige allesamt fremdgesteuerte Gewaltwesen, fördert eine rassistische Sichtweise, die nur wenig mit der Realität zu tun hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit