Neuer Heimatunterricht in Russland: Gehirnwäsche ab der ersten Klasse

Zum neuen Schuljahr nehmen die Propagandisten im Kreml die Jüngsten ins Visier: mit einem neuen, patriotischen Schulfach. Kritik ist unerwünscht.

Drei russische Grundschulkinder, festlich gekleidet

„Spannend, die russische Fahne wird gehisst!“, Russische Grundschulkinder am 1. September 2022 Foto: Alexander Zemlianichenko/ap

MOSKAU taz | Die russische Trikolore im Hof der Schule Nummer 56 im Moskauer Westen, sie flattert noch am Nachmittag im kühlen Herbstwind. Am Morgen hatte sie ein Elftklässler hier hochgezogen, begleitet von der russischen Hymne. Es ist Schulanfang in Russland. Die Mädchen haben weiße Schleifen im Haar, die Jungen tragen Anzug samt Fliege, und alle überreichen sie ihren Leh­re­r*in­nen Blumen.

Flaggenhissen und Hymnehören ist seit diesem 1. September wieder Pflicht an jeder staatlichen Schule im Land, wie es in der Sowjetunion war. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich dafür ausgesprochen, jede Schulwoche damit beginnen zu lassen. Den Kindern müsse schließlich die Liebe zum Vaterland vermittelt werden.

Das tut das Land nun mittels Geschichtsunterricht ab der ersten Klasse und Gesprächen über die „Richtigkeit“ der „militärischen Spezialoperation“, wie Russland den Krieg in der Ukraine offiziell nennt.

„Ideologische Erziehungsarbeit“ wird, wie bereits zu Sowjetzeiten, wieder Teil der schulischen Bildung. Laut Umfragen sind es vor allem junge Menschen, die das Handeln ihrer Regierung infrage stellen, die auch den Krieg in ihrem Nachbarland verurteilen. Der Kreml will offenbar so früh wie möglich gegen solche Umtriebe ansetzen. Das Aufklärungsministerium, wie das russische Bildungsministerium heißt, stellt allen Schul­di­rek­to­r*in­nen dafür Er­zie­hungs­be­ra­te­r*in­nen zur Seite.

Emotionen sind wichtig, Kritik nicht erwünscht

Die wenigsten Eltern im Land stören sich an Flagge und Hymne. Viele nehmen die Neuerung als nostalgische Erinnerung an ihre eigene Schulzeit wahr, erzählen, wie sie einst bei der sogenannten „Lineika“, wie der feierliche Appell vor dem Beginn des Unterrichts bis heute heißt, selbst nach vorn getreten seien, um voller Aufregung an der Kurbel der Fahnenstange zu drehen. Nun zögen eben ihre eigenen Kinder die Flagge hoch, sagen sie, was sei schon dabei?

Bei der Fahne allein aber bleibt es nicht. Ab kommendem Montag beginnen die sogenannten „Gespräche über Wichtiges“. Eine Art Klassenstunde, damit die Kinder begriffen, was „Heimat“ sei. Das erste „Gespräch“ führte gleich am Einschulungstag der Präsident höchstpersönlich.

In Kaliningrad, der russischen Enklave an der Ostsee, legte Putin vor Sie­ge­r*in­nen schulischer Wettbewerbe seine Sicht auf die Geschichte dar: von einem stets von außen bedrohten Russland, das sich immer zu wehren wisse. Kritische Anmerkungen waren nicht gestattet, wie Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung ohnehin nicht erlaubt ist im Land.

In Handbüchern des Ministeriums finden Leh­re­r*in­nen seit wenigen Tagen vorbereitete Anleitungen – mit Fragen für sie und möglichen Antworten ihrer Schüler*innen. Jede Woche ist einem anderen Thema gewidmet: „Russland ist unser Land“, „Traditionelle Familienwerte“, „Einheit des Volkes“. Jede Klasse soll über Heimat diskutieren, „Emotionen sind dabei wichtig“, steht im Handbuch. Die „Diskussion“ aber dürfte, sieht man sich die sehr genauen Vorgaben des Ministeriums an, einseitig ablaufen.

Ein Handbuch für Leh­re­r*in­nen

Für Erst- und Zweit­kläss­le­r*in­nen steht im Rahmen der „Russland ist unsere Heimat“-Stunde das Lernen des sowjetischen Liedes „Womit fängt die Heimat an?“ im Vordergrund. „Die Kinder sollen mit dem Stolz auf ihr Vaterland“ aus der Stunde herauskommen, heißt es in der Anweisung an die Pädagog*innen.

Dritt- und Viert­kläss­le­r*in­nen sollen Sprichwörter zur Heimat sammeln. Als Beispiele werden solche Sätze wie „Das Glück der Heimat ist teurer als das eigene Leben“ oder „Für die Mutterheimat zu sterben macht keine Angst“ genannt. Am Ende der Stunde gilt es, einen Aufsatz zum Thema „Wie dient ihr der Heimat?“ zu schreiben. „Ein Tipp:,dienen' bedeutet, seine militärische Pflicht zu erfüllen oder sich im Namen eines anderen einer Sache zu unterwerfen“, steht im Handbuch.

Ab Klasse fünf sollen die Schü­le­r*in­nen die „Ziele der Spezialoperation begreifen“, sollen wissen, dass „DNR und LNR“, die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass, „Russland“ und „Russische Soldaten Helden“ seien. Videos, Spiele und Lieder stellt das Ministerium, damit der Unterricht interaktiver wird. 22 Millionen Rubel (umgerechnet etwa 360.000 Euro) gibt der Staat für das Programm aus.

Keine Orte des Dialogs

Die russische Psychologin Ljudmila Petranowskaja sieht in den „Gesprächen“ einen „Versuch, die Gesellschaft in die vom Kreml gewollte Richtung zu beeinflussen. Russische Staatsschulen sind keine Orte des Dialogs“.

In Whatsapp-Gruppen und Telegram-Chats tauschen sich derweil manche Eltern über Strategien aus, wie ihre Kinder den patriotischen Unterricht umgehen könnten. „Ist Schwänzen o.k.?“, fragt eine Mutter.

Eine Moskauer Lehrerin, die Julia genannt werden will, erzählt davon, wie sie der „aufgezwungenen Gehirnwäsche“, wie sie die Klassenstunden nennt, entkommen will. „Ich könnte mit den Schülern Tee trinken und über das sprechen, was sie gerade bewegt. Aber irgendwann will die Direktorin einen Bericht sehen. Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Schülern davon zu erzählen, dass russische Soldaten Helden sind.“

Ihre Option: kündigen. „Aber so viele Privatschulen gibt es gar nicht in unserem Land, um uns nicht einverstandene Lehrer alle aufnehmen zu können.“

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