Der Krieg und Russlands Gesellschaft: Erzwungener Hurra­patriotismus

Der Ukrainekrieg verändert auch Russland. Vor allem indem die Gesellschaft auf Linie gebracht wird: mit Gesetzen, neuen Schulbüchern und Denunziantentum.

Weiß-blau-rote Luftballons als russische Flagge geformt neben einer Lenin-Statue

Parteitreue Jugendliche in St. Petersburg vor einer Lenin-Statue Foto: Dmitri Lovetsky/ap

ST. PETERSBURG taz | Petersburg schmilzt. Die heiße stickige Luft steht in den Straßen und erhitzt die Häuser. Man kann kaum atmen. In einer Buchhandlung am Newski-Prospekt im Stadtzentrum gehen Eltern und Schü­le­r*in­nen zwischen den Regalen umher, am 1. September beginnt das neue Schuljahr.

Ich öffne ein Geschichtsbuch für die höheren Klassen. „Während des Staatsstreichs in der Ukraine Anfang 2014 wurde der rechtmäßig gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch gestürzt. In Kiew kamen radikale Nationalisten mit Unterstützung westlicher Länder an die Macht. Die Ereignisse in der Ukraine und die Wiedervereinigung der Krim mit Russland haben eine scharfe Reaktion der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union hervorgerufen. Wieder einmal hat der Westen begonnen ein Bild in Gestalt Russlands zu zeichnen, das an allen Problemen der „freien Welt“ schuld hat“, heißt es dort. Das Erscheinungsjahr des Buches: 2021.

In diesem Jahr haben die Schulen damit angefangen, den Tag der Wiedervereinigung der Krim mit Russland im März 2014 zu feiern. Bis zu diesem Datum malten die Kinder thematische Plakate, mit denen sie die Flure der Schulen schmückten.

„Im Rahmen der patriotischen Erziehung sind wir verpflichtet, Veranstaltungen mit Kindern durchzuführen, die bedeutenden historischen Daten gewidmet sind. Im März dieses Jahres ergingen neue Anweisungen zur Krim“, erzählt die Grundschullehrerin Emma Masirowa*. Sie hatte vor drei Jahren angefangen, als Lehrerin zu arbeiten, im vergangenen Juni jedoch gekündigt.

Gehirnwäsche in der Grundschule

Seit Beginn des Krieges ist dieser an russischen Schulen Gegenstand vieler Veranstaltungen: Schü­le­r*in­nen sehen sich patriotische Dokumentationen an und schreiben Briefe an Soldaten. Viele Lehrkräfte sind davon begeistert. Aber es gibt auch diejenigen, die mit allen Mitteln versuchen, diese Auflagen zu umgehen.

„Ich denke, es ist wichtig, den Schü­le­r*in­nen klar zu machen, dass Krieg schlecht ist. Egal wer da gegen wen kämpft. Kleinen Kindern, die noch nicht wissen, wie man kritisch denkt, politische Ansichten aufzuzwingen, ist unfair. Für so etwas kann ich keine Verantwortung übernehmen“, sagt Emma Masirowa.

Ab September wird Emma an einer Privatschule unterrichten, pro Jahr müssen Eltern dafür umgerechnet rund 13.000 Euro zahlen. Dort gilt die Regel, politische Themen weder im Klassen- noch im Lehrerzimmer anzusprechen. „Natürlich muss das Kind das Land respektieren, in dem es lebt. Aber die patriotische Erziehung in öffentlichen Schulen basiert auf der Tatsache, dass wir gut und stark, alle anderen jedoch Feinde und Neidhammel sind. Das ist kein Patriotismus“, sagt sie.

Neben diesem Hurrapatriotismus wird in Russland seit einigen Jahren ein weiterer Trend aktiv gefördert – traditionelle Familienwerte. Ende Juni unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Dekret über den „Tag der Familie, Liebe und Treue“. Seitdem ist dieses Fest am 8. Juli auch offiziell ein Feiertag. In Russland wird die Ehe ausschließlich als Verbindung zwischen Mann und Frau begriffen.

Frei leben – frei reden

So ist es auch kein Zufall, dass im selben Monat in die Staatsduma ein neuer Gesetzesvorschlag eingebracht wurde, der ein weiterer Schlag für die russische LGBTQ-Community war. Die Abgeordneten schlugen vor, „Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“ jetzt in allen Altersgruppen zu untersagen. Bisher galt dieses Verbot nur in Bezug auf Kinder und Jugendliche.

Gleichzeitig bleibt die Definition von „Propaganda“ jedoch sehr vage. Es gehe um „die Verbreitung von Informationen, die nichttraditionelle sexuelle Einstellungen und die Attraktivität nichttraditioneller sexueller Beziehungen befördern“, heißt es da. Diese Formulierung erlaubt es, sogar eine offene LGBTQ-Gruppe in sozialen Netzwerken als Propaganda zu labeln, weil jede/r diese Gruppe betreten kann. Derzeit genügt es noch, den Inhalt mit 18+ zu markieren, um die Vorschrift einzuhalten.

„Für die Staatsmaschine sind wir die letzte Hochburg westlicher Werte, die Russland bedrängen“, sagt die Freiwillige des LGBTQ-Zentrums in St. Petersburg, Elena Petrowa*. Jeden Monat suchen das Zentrum 300 bis 500 Be­su­che­r*in­nen auf. Hier werden Selbsthilfegruppen, Schulungen und Vorträge von Psy­cho­lo­g*in­nen sowie Infoveranstaltungen organisiert.

Seit Februar ist die Zahl der Hilfesuchenden stark angestiegen. „Früher kamen die Leute zu uns, um ohne Scham und Angst über ihr Leben zu sprechen. Jetzt kommen sie auch, wenn sie ohne Zensur über den Krieg reden wollen“, sagt Elena.

Lieber doch wieder die Eremitage-Miniatur

Unzensiert über den Krieg reden – solche Orte findet man in Russland kaum noch. Die, die es gibt, sind nicht öffentlich. Viele Rus­s*in­nen sind sich einig, dass das gegenseitige Vertrauen dramatisch gesunken ist. Jemanden für die Diskreditierung und Verbreitung falscher Informationen über die Armee zur Verantwortung zu ziehen, wurde fast unmittelbar nach dem Einmarsch in die Ukraine vor dem Hintergrund zahlreicher Proteste Gesetz.

Gleichzeitig tauchten neue Symbole zur Unterstützung der Streitkräfte auf den Straßen auf: die lateinischen Buchstaben Z und V. Transparente verschiedener Größe hängen in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Gebäuden und an Info-Ständen. Darüber gehen die Meinungen auseinander. So gab es auch Aktivist*innen, die Beschwerden an Beamte schrieben und die Entfernung der Plakate forderten. Die neuen Symbole gingen einem anfangs auf die Nerven. Jetzt jedoch fallen sie niemandem mehr wirklich auf: Offenbar haben wir uns an sie gewöhnt – wie an jede x-beliebige Reklame.

Auch Sou­ve­nir­ver­käu­fe­r*in­nen versuchen mit den neuen Symbolen Geld zu verdienen. In einem Kiosk in der Nähe des Schlossplatzes werden T-Shirts, Tassen und andere Kleinigkeiten mit den Buchstaben verkauft. Aber die Ver­käu­fe­r*in­nen räumen ein, dass diese Produkte derzeit kaum nachgefragt würden. „Noch vor ein paar Monaten haben wir mehr verkauft. Jetzt greifen Touristen wie früher nach Zugbrücken und der Eremitage “, sagt ein Verkäufer.

Aber Souvenirs und Straßenbanner sind nur eine „nette“ Ergänzung zu dem turbulenten Strom, der sich täglich von den Fernsehbildschirmen auf die Zu­schaue­r*in­nen ergießt. Der Weg, den das russische Fernsehen in den vergangenen Jahrzehnten gegangen ist, scheint mit dem Beginn der „Sonderaktion“ seinen Höhepunkt gefunden zu haben. Jede Nachrichtenmeldung basiert auf zwei Thesen: Es gibt große Probleme im Ausland, in Russland hingegen werden sie alle erfolgreich bewältigt.

* Namen wurden von der Reaktion verändert

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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